Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
sich gelohnt, es zu schreiben. Denn man kann nicht oft genug, starrsinnig genug und überzeugend genug niederschreiben, dass es keine »Lösung« und keine »Befreiung« gibt, aus den individuellen Erwartungen ebenso wenig wie aus dem historischen Hoffen … Der Mensch erwartet etwas, erwartet sehnsüchtig die Befreiung, wartet auf eine Lösung, er kauert im Vorhof der Hölle und wartet auf beides, als würde er im Krampf, mit tödlichem Durchfall, dort hocken. Und er will nicht glauben, dass er umsonst wartet. Und wirklich, er harrt nicht vergebens – die Befreiung, die Lösungen, sie werden sich eines Tages einstellen. Eine Armee oder ein Mensch wird sie bringen. Und wie sehen sie aus? … Na, so, wie sie eben sind. Abscheulich, unbarmherzig, ordinär, hinterhältig, grausam und auch gleichgültig. Trotzdem bedeuten sie Lösung und Befreiung, und sie müssen akzeptiert werden, ohne Verwunderung, dankbar und demütig. Was erwarten wir? Engelsfanfaren in himmlischem Licht? Nein, die gibt es nicht. Und diese andersartige »Lösung« müssen wir annehmen, so wie sie ist, ohne Begeisterung und Enttäuschung – und in ihrer furchtbaren Vulgarität das Wunderbare sehen.
Ich bin zwei Tage mit dem Kind allein. Seit langer Zeit fühle ich das erste Mal wieder, dass ich meine Zeit in vornehmer Gesellschaft verbringe.
Wir sprechen nur über Wesentliches wie die großen Geister oder hochrangige Menschen oder Souveräne. Worüber? Über den Tod und davon, dass das Kälbchen am Vormittag genuckelt hat und es knirscht, wenn der Hase Luzerne mümmelt. Natürlich wird auch er Schriftsteller werden, das hat er mir schon mitgeteilt. Was für ein Schriftsteller? »Ein bekannter«, sagt er. »Und Sie werden der Türke sein.«
Diese ungarische Gesellschaft, die so plakativ und geschäftstüchtig christlich gewesen ist, hat ausgerechnet zum Beweis des Christseins Dokumente verlangt – und zwar komplizierte, nur aufgrund von polizeilichen Nachforschungen erhältliche Papiere. Das ist, als würde jemand zum Nachweis von Talent oder Schönheit Dokumente und Urkunden verlangen. Das Christlichsein kann genauso wenig mit Dokumenten nachgewiesen werden wie Begabung oder Schönheit. Entweder ist jemand christlich, oder er ist es nicht. Alles andere ist einfach Geschäft.
Wie jene Gorgonzolasorten, die wie Käse aussehen, solange ihr weich-wurmiger Körper in Stanniolpapier gehüllt ist und so zusammengehalten wird … Doch eines Tages hebt man das Papier mit einer Messerspitze ab, dann ist auch die letzte schwache Kohäsionskraft passé, und das weiche Material kriecht grün und langsam auseinander. So ist diese Gesellschaft heute.
Dabei kann man nicht sagen, das sei die natürliche Konsequenz aus vergangenen faschistischen Zeiten. Das stimmt zwar weitgehend. Folgen dieser Art zeigen sich aber nur dort, wo das Material für eine Infektion durch diese Seuche empfänglich ist. Auch die Tschechen wurden von den Deutschen besetzt, und auch in Holland gab es holländische Nazis … doch alle anderen haben anders darauf reagiert! Und außerdem: Was jetzt geschieht und sich in seiner ganzen Armseligkeit zeigt, ist nicht nur eine Konsequenz , sondern eine eigenständige, von allen Voraussetzungen unabhängige Realität. Diese Menschengarnitur ist armselig, dürftig, von minderem Wert, sowohl moralisch als auch geistig. Das ist nicht die »Sünde« der Demokratie; doch die Demokratie kann daran zugrunde gehen, denn dies ist die Wirklichkeit, mit der sie rechnen muss.
Die Engländer, Amerikaner sagten ermunternd: »Brecht mit den Deutschen, um jeden Preis!« »Und dann?«, haben wir gefragt. »Was geschieht dann?« … »Tja«, sagten die Engländer und Amerikaner, »versprechen können wir euch nichts.«
Die Jugoslawen und die Polen, die von ihnen genauso ermutigt wurden, sind dem Aufruf gefolgt. Sie haben mit den Deutschen gebrochen und heldenhaft gekämpft. In diesen Staaten herrscht heute formal Anarchie. Engländer und Amerikaner konnten kein einziges ihrer Versprechen einlösen. Die Russen haben wenigstens nichts versprochen. So sieht es aus.
Vor einem Jahr haben uns die Russen zweifellos Befreiung gebracht. Die Freiheit aber hatten sie nicht im Gepäck.
Und Freiheit kann man auch nicht von außen bringen. Ein Individuum, eine Nation können sich nur selbst die Freiheit schenken.
Als Dezső Szabós menschliches und schriftstellerisches Potenzial schwand und er schließlich verstummte, liefen seine Anhänger auf Zehenspitzen mit einem
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