Urangst
sorgsam darauf, was sie in ihren E-Mails schreibt und was nicht.«
»Und privaten Ermittlern ist es auch nicht gelungen, sie zu finden?«
»Nein. Sie lebt weit außerhalb aller Erfassungsraster, vielleicht unter einem neuen Namen und mit einer neuen Sozialversicherungsnummer, alles neu. Was sie mir angetan hat, spielt ohnehin keine Rolle. Aber was hat sie meiner Tochter angetan? Was hat sie Hope angetan?«
»So hast du sie also genannt – Hope«, sagte Amy.
»Ja.«
»Ganz gleich, was Vanessa getan hat«, sagte Amy, »das Einzige, was jetzt zählt, ist, dass du die Chance bekommen könntest, es wieder in Ordnung zu bringen.«
Das war es also, was er ihr eigentlich hatte erzählen wollen, das, was noch wichtiger war als die Zeichnungen, die er von Nickies Augen angefertigt hatte, wichtiger als die akustischen Halluzinationen und die mysteriösen Schatten, die er am Rande seines Gesichtsfeldes wahrgenommen hatte, wichtiger als sein Traum und das Erwachen in einem unerklärlicherweise frisch gemachten Bett. Nach zehn Jahren mochte die Möglichkeit bestehen, dass er seine Tochter zu sich holen konnte.
Amy hatte seine E-Mail an Vanessa gelesen, in der er jede Auseinandersetzung und alle Machtspielchen vermieden hatte: Ich bin dir ausgeliefert. Ich habe keine Macht über dich und du hast alle Macht über mich. Falls du mich eines Tages haben lässt, was ich will, dann wird es nur deshalb sein, weil dir damit gedient ist nachzugeben, nicht weil ich es verdient oder mir ein Anrecht darauf erworben habe.
Nachdem er aus seinem Traum erwacht war, in dem ein Tornado in Kansas gewütet hatte, hatte Brian eine Antwort von ihr vorgefunden. Er hielt sie jetzt in der Hand, während er aus dem Fenster schaute.
Du willst dein kleines Ferkelchen also immer noch? Du kotzt mich an, ich darf gar nicht daran denken, wie behaglich du es dir in deinem Leben eingerichtet hast, alles so, wie du es magst, und du hast nie auch nur einen Scheißdreck geopfert. Du willst dir diese kleine Missgeburt tatsächlich aufhalsen? In Ordnung. Ich bin reif dafür. Aber ich will etwas von dir. Halte dich bereit.
Die Eigenschaften des Lichts hatten sich inzwischen genügend verändert, um ein transparentes Spiegelbild von Amys Gesicht auf die Scheibe zu werfen.
Nachdem jetzt all seine Geheimnisse enthüllt waren und sein eigenes Gesicht sich auf der Glasscheibe vor ihm abzeichnete, wandte sich Brian zu Amy um.
Sie trat zu ihm und nahm seine Hand.
Er sagte: »Sie wird jeden Cent wollen, alles, was ich besitze. «
In diesem neuen Kontext wiederholte Amy lächelnd, was sie zuvor schon einmal gesagt hatte: »Nicht alles. Es gibt immer noch dich und mich, daran hat sich nichts geändert.«
35
Die abgerissenen Gliedmaßen, der geköpfte Rumpf, der Kopf ohne Augen und die herausgestemmten Glasaugen der Puppe liegen neben dem Tablett mit dem Essen, wo Moongirl sie sorgfältig arrangiert hat.
Nicht ein einziges Mal während der Zerstückelung und des Köpfens hat Piggy den Anschein erweckt, die Zerstörung wahrzunehmen, die ihre Mutter anrichtete. Jetzt ignoriert sie die Trümmer.
Harrow hat den Verdacht, diesmal habe Piggy ihre Mutter ausgetrickst. Statt ihrer Lieblingspuppe das gelungenste und am schönsten verzierte Kleid zu geben, das sie bisher entworfen hat, hat sie es vielleicht der Puppe angezogen, die sie am wenigsten mag.
Das ist zwar nur ein kleiner Triumph, aber im Leben des Kindes gibt es ohnehin keine größeren Erfolgserlebnisse.
Wenn Moongirl erkennt, dass sie getäuscht worden ist, wird sie Piggy teuer dafür bezahlen lassen. Harrow kann jetzt schon sehen, wie die Frau darum ringt, ihre Wut über die Gleichgültigkeit des Kindes gegenüber ihrem zerstörerischen Werk im Zaum zu halten.
Wie Harrow besitzt auch Moongirl den kalten Intellekt einer Maschine und einen Körper, der in der Perfektion seiner Form und Funktion maschinenartig ist, aber sie tut nur so, als verstünde sie ihre Gefühle und hätte sie unter Kontrolle, wogegen Harrow seine Gefühle tatsächlich versteht und sie unter Kontrolle hat.
Die Bandbreite ihrer Emotionen beschränkt sich auf Wut, Hass, Neid, Habgier, Verlangen und Eigenliebe. Er ist sich nicht sicher, ob ihr das klar ist oder ob sie sich für vollständig hält.
Einerseits hat sie zwar keine eiserne Kontrolle über sich, aber andererseits ist ihr klar, dass ihr das Unterdrücken ihrer Gefühle größere Macht verleiht. Je länger sie diese Wut und diesen Hass nicht oder nur teilweise auslebt, desto
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