Urangst
Selbsterniedrigung von ihm verlangt.
Mit der Sehnsucht nach Ordnung verhält es sich wie mit der Bescheidenheit; auch sie zählt nicht zu den Dingen, die sie gelernt hat, um ihre Mutter zufriedenzustellen. Bescheidenheit ist ihr so selbstverständlich wie einem Vogel sein Gefieder.
Der Selbsterniedrigung dagegen widersetzt sie sich. Sie besitzt eine stumme Würde, die zehn Jahre wie die, die sie durchgemacht hat, eigentlich nicht hätte überstehen sollen.
Sie nimmt den Hohn, die Kränkungen und die Gemeinheiten, mit denen ihre Mutter sie straft, jede verletzende Bemerkung und jede Schikane so selbstverständlich hin, als sei es das, was sie verdient, aber sie ist nicht bereit, sich zu blamieren. Sie kann damit leben, von anderen beleidigt zu werden, aber sie erniedrigt sich niemals selbst.
Harrow hat den Verdacht, dass die angeborene Würde des Mädchens, die jedoch frei von jedem Stolz ist, sie am Leben erhält. Ihre Mutter hat diese Eigenschaft klar erkannt und wünscht sich nichts sehnlicher, als ihre Würde zu zerstören, bevor sie das ganze Kind zerstört.
Um Moongirl zufriedenzustellen, muss diese Zerstörung dem Anzünden vorausgehen; der Geist muss tödliche Wunden davongetragen haben, bevor das Fleisch dem Feuer zum Fraß vorgeworfen wird.
Jetzt öffnet Piggy eine kleine Tüte Kartoffelchips und ihre Mutter sagt: »Deshalb bist du so fett.«
Das Kind zögert nicht, stopft sich die Chips aber auch nicht trotzig in den Mund. Es setzt seine Mahlzeit unbeirrt fort, in aller Ruhe und mit gesenktem Kopf.
Mit zunehmendem Eifer rupft Moongirl die Stickereien aus dem Puppenkleid.
Piggy darf diese Puppen nur haben, damit man sie ihr zur Strafe wegnehmen kann. So verhält es sich mit allem, was sie besitzt.
Jedes Mal, wenn Moongirl sieht, dass eine der Puppen dem Kind mehr ans Herz gewachsen ist als die anderen, schreitet sie ein. Sie scheint festgestellt zu haben, dass die Puppe, an der sie sich jetzt zu schaffen macht, ein solcher Liebling ist.
Manchmal weint das Kind lautlos. Es schluchzt nie. Die Unterlippe bebt, Tränen rollen über das Gesicht, aber das ist auch schon alles.
Harrow ist sich sicher, dass die Tränen oft, wenn nicht sogar immer, unecht sind und dass es Mühe kostet, sie hervorzubringen. Piggy weiß, dass Tränen erwünscht sind, dass ihre Mutter ein Geschöpf ist, das sich von Tränen nährt.
Das ist im metaphorischen Sinne wahr, aber es ist auch eine Tatsache. Er hat nie erlebt, dass Moongirl ihre Tochter küsst, aber zweimal hat er gesehen, wie sie Tränen aus den Augenwinkeln des Kindes geleckt hat.
Wenn Piggy ihre Mutter nicht gelegentlich mit Tränen belohnen würde, könnte es sein, dass sie längst tot wäre. Die Tränen haben Moongirl zu der Schlussfolgerung geführt, dass ihre Tochter sich mit der Zeit doch noch brechen lässt, und danach sehnt sie sich wie nach nichts anderem; nur deshalb hat sie bisher Geduld aufgebracht.
Die Gewalttätigkeit, die sich in Moongirl angestaut hat, ist wie der Tod von Millionen, der sich in der vollendeten Plutoniumkugel im Innern einer Atomwaffe konzentriert. Wenn sie endlich freigesetzt wird, kommt es zu einer Ehrfurcht gebietenden Explosion.
Nachdem sie den größten Teil der Stickereien auf dem Puppenkleid aufgetrennt hat, zerfetzt sie jetzt das Kleid selbst, nicht mit der Schere, sondern mit ihren bloßen Händen, und sie knirscht voller Genugtuung mit den Zähnen, während sie jede Naht aufreißt.
Vielleicht hat sie inzwischen selbst den Verdacht, dass ihrer Tochter die Würde niemals genommen werden kann. Das würde erklären, warum sie daran festhalten könnte, Piggy morgen Nacht anzuzünden.
Obwohl Harrow ein fantasievoller Mann ist, lässt ihn sein Vorstellungsvermögen im Stich, wenn er versucht, sich die Grässlichkeiten auszumalen, die diese Frau ihrer Tochter antun wird, bevor sie das Kind in Brand steckt. Der Durst nach Kindesmord und anschließendem Vatermord, seit zehn Jahren ungestillt, wird mit Sicherheit dazu führen, dass Moongirl Piggys letzte Stunden zu einem denkwürdigen Spektakel macht.
Am Schreibtisch öffnet das Kind die kleine Packung Plätzchen und übergeht damit erneut den Kartoffelsalat. Es hat einen Instinkt für die Fallen seiner Mutter entwickelt.
Moongirl hält jetzt die nackte Puppe in Händen. Ihre Gliedmaßen haben Gelenke und man kann sie in fast jede Haltung biegen. Aber als sie ein Ellbogengelenk nach hinten biegt, reißt sie einen der Unterarme ab.
»Du fettes kleines, Plätzchen
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