Urban Gothic (German Edition)
sich um einen verzögerten Schockzustand – eine Reaktion auf den Druck, der auf ihr lastete? Kerri wurde bewusst, dass sie zitterte, die Arme um die eigenen Schultern geschlungen hatte und die Haut fast schon zerquetschte. Außerdem hatte sie mit den Fingern an ihren Haaren gespielt und auf den Strähnen herumgekaut wie früher als kleines Mädchen. Sie zwang sich, damit aufzuhören, und versuchte, die Beklommenheit abzuschütteln, die sie zu überwältigen drohte.
Ich verliere den Verstand, dachte sie. Ich verliere wirklich den Verstand. Ich muss mich wieder in den Griff bekommen, sonst kann ich genauso gut aufgeben und mich gleich hier und jetzt hinlegen .
Kerri richtete sich auf und setzte sich wieder in Bewegung. Ihre Hand strich über die Wand, teils zur Orientierung, teils zur Beruhigung. Ein Gebet kam ihr in den Sinn, und sie öffnete den Mund, um es zu murmeln. Doch dann ließ sie es bleiben, bevor ihr die erste Silbe über die Lippen kam. Falls es Gott tatsächlich gab, musste er sich in Kerris Augen erst mal hierfür rechtfertigen. Sie konnte den Menschen – Kreaturen –, die ihre Freunde getötet hatten, nicht verzeihen, und ebenso wenig gestattete sie sich, Gott zu verzeihen. Dass er die Regeln aufgestellt hatte, hieß noch lange nicht, dass er sie auch brechen durfte. Manche Sünden hielt sie für unentschuldbar. Und was ihnen mit seiner Duldung in dieser Nacht widerfahren war, stand ganz oben auf der Liste.
Kerri erreichte den Keller ohne Zwischenfall durch eine große Spalte in der Wand. Roter Lehm schmatzte zwischen ihren Fingern, als sie den feuchten Raum betrat. Sie wischte sich die Hände an der Hose ab und sah dabei kurz nach unten. Als sie wieder aufschaute, stand eine Gestalt vor ihr.
Kerri kreischte. Die Gestalt preschte auf sie zu und schlug ihr eine Hand über den Mund. Die Handfläche strotzte ebenso wie der Rest des Körpers vor Dreck und geronnenem Blut. Die Erscheinung trug Kleider, die nahezu unsichtbar unter all dem Schmutz verschwanden. Dasselbe galt für die Gesichtszüge. Sie erkannte Javier erst, als er sprach, und selbst da konnte sie sich noch nicht sicher sein.
»K-Kerri?«
Die Stimme klang angespannt und heiser. Kerri wehrte sich gegen ihn und er drückte die Hand fester auf ihren Mund.
»Pst. Kerri, nicht! Ich bin’s, Kerri ... Javier.«
Sie hörte auf, Widerstand zu leisten. Javier entfernte langsam die Hand von ihrem Mund. Kerri starrte ihn mit großen Augen an. Wackelig wich sie einen Schritt zurück.
»Ich bin’s«, flüsterte er abermals und hob beruhigend die Arme. »Gehtʼs dir gut?«
»Oh mein Gott ... Javier?«
»Ja. Ich bin’s wirklich.«
»Heilige Scheiße. Ich kann einfach nicht glauben, dass ...«
Kerri schlang die Arme um ihn, ohne auf den Dreck und das Blut zu achten. Sie drückte ihn fest und Javier erwiderte die Umarmung. Beide wollten sich nicht mehr voneinander lösen.
»Gehtʼs dir gut?«, fragte Javier erneut.
Kerri nickte an seiner Brust. »Ja. Nur ein paar kleine Schnitte und Kratzer. Ich wäre fast ...« Sie wollte ›vergewaltigt worden‹ sagen, aber die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. »Es geht mir gut. Was ist mit dir? Das ganze Blut!«
»Der Großteil stammt nicht von mir.«
»Aber deine Handgelenke. Heilige Scheiße, das sieht echt übel aus, Javier.«
»Denen geht’s gut. Mit mir ist alles okay. Die Wunden sind inzwischen verkrustet. Sobald wir hier raus sind, geh ich ins Krankenhaus, lass die Schnitte desinfizieren und mit ein paar Stichen nähen, dann bin ich so gut wie neu.«
Kerri schöpfte neuen Mut. Das Denken fiel ihr plötzlich leichter. »Hast du einen Weg nach draußen gefunden?«
»Ja. Ich habe in Bereichen nach euch gesucht, in denen ich vorher noch nicht gewesen bin, aber dann hatte ich die Idee, hierher zurückzukommen. Ich dachte mir, dass einer von euch vielleicht wieder ins Haus gegangen ist, um sich zu verstecken. Aber ja, ich hab einen Weg nach draußen gefunden. Es gibt einen Tunnel in der Kanalisation. Die Kreaturen, die hier unten leben, haben einen Zugang dazu freigelegt. Es fließt ein kleiner Fluss hindurch. Wir können dem Wasser folgen, sobald wir Heather und Brett gefunden haben.«
»Ist es weit dorthin?«
»Schon ein Stück, aber ich weiß den Weg noch. Hast du die anderen gesehen?«
»Na ja ... Brett ist tot.«
»Oh Scheiße. Bist du sicher?«
Kerri nickte und wischte sich die Augen ab. »Ziemlich sicher. Dieser Freak Noigel – der Typ, der Steph und Tyler getötet hat ... er
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