Urban Gothic (German Edition)
Feuerzeug zurück in die Tasche. Sie krochen auf Händen und Knien, und Kerri zuckte zusammen, als ihr ein langer Holzsplitter in die Handfläche stach. Sie zog ihn mit den Zähnen heraus und spuckte ihn weg. Aus der Wunde quoll ein kleiner Blutstropfen. Sie schaute auf den Boden. Ein weiterer Tropfen. Noch während sie hinsah, verschwand er, fast so, als werde er von den Bodenbrettern getrunken.
Womöglich sehen wir deshalb nicht mehr so viele von Heathers Fußabdrücken, dachte sie. Das Haus saugt sie alle auf .
Sie erreichten die offene Tür. Javier beugte sich vor und spähte um die Ecke. Dann nickte er in ihre Richtung, gab ihr so zu verstehen, dass die Luft rein war. Sie krochen durch die Öffnung in einen weiteren Flur. Über ihnen hing eine von Spinnweben überzogene Zierlampe von der Decke. Den Boden bedeckte ein verschlissener, fleckiger Läufer in der Farbe von Limabohnen. Mehrere geschlossene Türen säumten den schmalen Gang. Kerri schüttelte den Kopf und versuchte, sich die Anordnung des Hauses vorzustellen.
Javier musste genauso verwirrt sein wie sie, denn er meinte: »Die Bruchbude ist wie ein verdammtes Labyrinth. Ich werd nicht schlau daraus.«
»Na ja, jedenfalls kennen wir schon einen Teil.«
»Ja, aber wir wissen nicht, was vor uns liegt. Oder wo Heather steckt.«
»Ihr ist nichts passiert. Wir finden sie schon.«
»Das hoffe ich«, erwiderte Javier. »Ich weiß nicht, was ...«
Seine Stimme verstummte. Zu heftige Emotionen. Kerri spürte, wie er neben ihr zitterte. Sie berührte ihn an der Schulter.
»Es wird alles gut«, flüsterte sie.
Er schaute zur Decke und runzelte die Stirn. Kerri folgte seinem Blick. Mehrere Elektrokabel und nackte Glühbirnen formten eine schmucklose Reihe und baumelten herab. Sie wirkten nicht wie ein ursprünglicher Bestandteil des Hauses. Eher so, als habe man sie nachträglich eingebaut.
»Merkwürdig«, murmelte Javier.
Kerri nickte.
Javier stand auf und half ihr auf die Beine. Vorsichtig rückten sie vor und versuchten es an der ersten Tür. Sie ließ sich mühelos öffnen. Dahinter kam eine Ziegelsteinmauer zum Vorschein.
Javier brummte. »Was zum Teufel soll die Scheiße?«
Kerri tippte ihm auf die Schulter. »Glaubst du, Heather ist hier vorbeigekommen?«
»Durch die Wand?«
»Nein! Durch diesen Gang.«
Javier zuckte mit den Schultern. »Muss sie wohl. Allerdings sehe ich keine Fußabdrücke mehr.«
»Vielleicht hat es aufgehört zu bluten.«
Javier wandte sich wieder den Ziegelsteinen zu und legte die Handfläche darauf. Kerri betrachtete das Mauerwerk. Der Mörtel wies Risse, Moos und Schimmel auf, trotzdem wirkte die Wand solide.
»Wir können nicht einfach hier rumstehen«, sagte sie. »Diese Kreatur könnte jeden Moment auftauchen.«
Javier nickte zustimmend und setzte sich wieder in Bewegung. Die Bodenbretter knarrten leise unter ihren Füßen. Beide erstarrten, um zu lauschen, ob das Geräusch Aufmerksamkeit erregt hatte. Im Haus herrschte weiter Stille. Kerri holte ihr Feuerzeug hervor. Staub tänzelte um die Flamme. Sie gingen weiter, hielten an der nächsten Tür auf der anderen Seite des Flurs an und lauschten erneut. Als sie von drinnen kein Geräusch hörten, öffneten sie die Tür.
Kerri schlug sich die Hand vor den Mund, biss die Zähne zusammen und bemühte sich, nicht zu schreien.
Hinter der Tür befand sich ein kleiner Raum ohne jegliche Einrichtung, abgesehen von einem alten, rostigen Heizkörper an einer Wand ...
... und überall auf dem Boden verstreuten Knochen.
Es bestand kein Zweifel daran, dass es sich um menschliche Überreste handelte. Die zweieinhalb Schädel lieferten einen unmissverständlichen Hinweis. Die restlichen Knochen waren zu groß, um von Tieren zu stammen – zumindest nicht von Tieren, die man in einem Getto in Philadelphia antraf. Am Finger einer Hand steckte noch ein Ehering, der die Flamme ihres Feuerzeugs reflektierte.
»Großer Gott.« Javier drehte sich mit geweiteten und nassen Augen zu ihr um. »Großer Gott, Kerri. In was für eine Scheiße sind wir da reingeraten? Was ist das hier?«
Der Schrei, den sie unterdrückt hatte, schlug in ein Kichern um. Der Laut schockierte sie, doch sie konnte sich nicht dagegen wehren.
»Es ist genau, wie du gesagt hast, Javier. Manchmal läuft’s einfach scheiße.«
Dann platzte das Gelächter aus ihr heraus. Javier forderte sie zischend auf, leise zu sein. Kerri konnte an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass sie ihm Angst machte. Verdammt, sie
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