Urban Gothic (German Edition)
Wenn sie also unser Telefon benutzen wollen, dann lässt du sie gefälligst. Du bist mir wirklich ein feines Vorbild, Perry Watkins.«
Leo strahlte. »Danke, Mrs. Watkins.«
»Schon gut, Leo«, erwiderte sie und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen. »Ich glaube zwar nicht, dass ein Anruf bei der Polizei auch nur das Geringste bringt, aber ich werde dich auf keinen Fall davon abhalten, das Richtige zu tun. Nur sollte eigentlich keiner von euch so spät noch unterwegs sein. Ihr wisst ja, wie es nach Einbruch der Dunkelheit auf den Straßen zugeht. Das Telefon ist in der Küche, Leo. Geh du ruhig und ruf an. Ihr anderen setzt euch. Ich mach euch was zu essen.«
Während die Jugendlichen Platz nahmen, schlurfte Perry zum Kühlschrank und holte sich eine Dose Bier. Bevor er die Lasche aufriss, drückte er sich das kühle Metall gegen die Stirn und seufzte. Ihm stand eine lange Nacht bevor. Nichts bereitete Lawanda mehr Vergnügen, als die Glucke für eine Horde Teenager zu spielen. Es war ihnen nie vergönnt gewesen, selbst Kinder zu bekommen, deshalb hatte sie einen Narren an allen gefressen, die im selben Häuserblock wohnten. Jede Woche, wenn sie die Kirche besuchten, betete Lawanda zu Gott, sie alle zu beschützen.
Erneut schüttelte Perry den Kopf und fragte sich, ob Gott auch jene Jugendlichen beschützte, die in das Haus am Ende der Straße gerannt waren.
Er hoffte es.
Aber er hegte Zweifel. Ernsthafte Zweifel. Er hatte Lawanda vorhin belogen. In Wahrheit glaubte er alles, was man sich über das verlassene Haus erzählte.
Wie die meisten Menschen hatte Gott mit jenem Ort nichts am Hut.
Der Teufel hingegen sehr wohl, wenn man den Gerüchten im Viertel Glauben schenkte.
6
Heather hatte das Gefühl, ihr Herz müsse explodieren. Sie saß in völliger Finsternis, konnte weder denken noch sich bewegen – und kaum atmen. Sie zitterte – teilweise vor Schock, teilweise von der kalten Nässe, die ihre Unterwäsche und ihre Jeans durchtränkte. Irgendwann hatte sie sich angepinkelt, was sie jetzt erst bemerkte. Ihr Fuß schmerzte zwar immer noch, blutete aber wenigstens nicht mehr. Bisher hatte sich Heather nicht durchringen können, die Wunde genauer zu inspizieren, doch sie musste es tun. Immerhin, nicht allzu tief, aber lang und voll Dreck und Rückständen vom Boden. Heather musste sie dringend reinigen, sonst bestand die Gefahr einer Infektion.
Ungeduldig mit sich selbst schüttelte sie den Kopf. Eine Infektion stellte im Augenblick die geringste ihrer Sorgen dar.
Sie lauschte aufmerksam und rechnete damit, die schweren polternden Schritte ihres Verfolgers zu hören, doch in dem bizarren Haus herrschte Ruhe. Irgendwie beunruhigte sie die Stille mehr als irgendwelche Schreie. Als kleines Kind hatte sie oft mit ihren zwei älteren Brüdern Verstecken gespielt. Sie suchte sich dann jedes Mal ein gutes Versteck – die Büsche vor dem Haus, den Werkzeugschuppen unten im Garten, den Keller – und kauerte sich hin, aber ihre Brüder verloren immer irgendwann die Lust, nach ihr zu suchen, und hockten sich stattdessen vor ihre Spielkonsole. Heather hatte das immer frustriert und irgendwann fing sie dann an, zu rufen, um die Jungs so zu ihrem Versteck zu locken. Einen flüchtigen Moment lang spielte Heather mit dem Gedanken, jetzt ebenfalls zu rufen – einfach aufzustehen und zu brüllen: Kälter! Wie beim Versteckspiel.
Aber das Einzige, was im Moment kälter wurde, war Tylers Leiche.
Heather biss sich auf die Unterlippe, um das nervöse Gelächter zu unterdrücken, das in ihr aufstieg. Warum geschah das hier alles? Sie verspürte einen plötzlichen Anflug von Wut auf Tyler. Tot hin, tot her, er trug die Schuld. Er hatte ja unbedingt herfahren müssen, um sich seine verfickten Drogen zu beschaffen, statt auf eine bessere Gelegenheit zu warten. Nein, er musste wieder mal alles vermasseln. Was für ein Arschloch. Keine Ahnung, was Kerri je an ihm gefunden hatte.
Heather zog die Knie an die Brust und schlang fröstelnd die Arme um ihren Körper. Unwillkürlich verspürte sie einen Hauch von Schuldgefühlen bei dem Gedanken. Immerhin war Tyler tot und es gehörte sich nicht, schlecht über Tote zu reden, jedenfalls behauptete ihre Mutter das.
Sie spielte mit dem Gedanken, ihr Handy hervorzuholen und Hilfe zu rufen oder zumindest das Display zu verwenden, um die Umgebung zu beleuchten, aber sie fürchtete, dass der Mörder die Tastentöne hören oder das Licht unter der Tür sehen könnte.
Ihre
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