Urbi et Orbi
Bestimmungsort: Savannah, Georgia. Sein Adoptivvater war Anwalt gewesen, und seine Mutter hatte wirklich alles für ihren neuen Sohn getan. Er wuchs in Atlantiknähe in einem gehobenen Mittelschichtviertel auf. Er war ein ausgezeichneter Schüler, wurde später Priester, und all das war für seine Adoptiveltern eine große Freude. In Europa studierte er zusätzlich Jura und fand Trost bei einem einsamen Bischof, der ihn wie einen Sohn liebte. Jetzt arbeitete er immer noch für diesen Bischof, der inzwischen Papst geworden war. Sie alle gehörten zu ebender Kirche, die in Irland so schrecklich versagt hatte.
Er hatte seine Adoptiveltern innig geliebt. Wie vereinbart, hatten sie ihm gegenüber immer erklärt, dass seine leiblichen Eltern ums Leben gekommen seien. Erst auf dem Totenbett hatte seine Mutter ihm die Wahrheit gesagt – das Geständnis einer frommen Frau vor ihrem zum Priester geweihten Sohn, in der Hoffnung, dass sowohl er als auch Gott ihr verzeihen würden.
Seit Jahren sehe ich sie vor mir, Colin. Was sie empfunden haben muss, als wir dich mitnahmen. Dort hat man mir versichert, es sei so für alle das Beste. Ich selbst habe versucht, mir das immer wieder zu sagen. Aber sie geht mir einfach nicht aus dem Kopf.
Er hatte hilflos geschwiegen.
Wir haben uns so sehr ein Kind gewünscht. Und der Bischof erklärte uns, ohne unser Eingreifen hättest du ein hartes Leben vor dir. Aber deine Mutter geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich würde ihr gerne sagen, dass es mir Leid tut. Ich würde ihr gerne sagen, dass wir dich in Liebe großgezogen haben. Ich habe dich so geliebt, wie sie dich geliebt hätte. Vielleicht könnte sie uns dann verzeihen.
Aber es gab nichts zu verzeihen. Die Gesellschaft trug die Schuld. Die Kirche. Nicht die Tochter eines Farmers in Sout h G eorgia, die keine eigenen Kinder bekommen konnte. Sie hatte nichts Falsches getan, und er hatte Gott angefleht, ihr Frieder zu schenken.
In den letzten Jahren hatte er kaum noch über diese ferne Vergangenheit nachgedacht, doch das Waisenhaus hatte nun all das wieder aufgewühlt. Noch hatte er den Gestank in der Nase, und er machte das Fenster auf und ließ den kalten Wind herein, um diese Erinnerung irgendwie loszuwerden.
Diese Kinder würden niemals Gelegenheit zu einer Reise nach Amerika bekommen und niemals die Liebe von Eltern erfahren, die sie wirklich haben wollten. Ihre Welt war auf das Innere grauer Mauern und Wände begrenzt, auf ein eisenvergittertes Haus ohne elektrisches Licht und beinahe unbeheizt. So würden sie sterben, allein und vergessen, nur von ein paar Nonnen und einem alten Priester geliebt.
16
M ichener suchte ein Hotel, das nicht in der Nähe der Pia þ a Revolu þ iei und des lebhaften Universitätsviertels lag, und entschied sich für ein bescheidenes Etablissement in der Nähe eines idyllischen Parks. Die Zimmer waren klein und sauber, die Art-Déco-Möblierung wirkte jedoch seltsam unangemessen. Sein Zimmer war mit einem Waschbecken ausgestattet, und er bekam sogar erstaunlich heißes Wasser. Gemeinschaftsdusche und Toiletten befanden sich auf dem Gang.
Er saß am einzigen Fenster des Raums, trank Cola light und aß ein Stück Gebäck, um die Zeit bis zum Abendessen zu überbrücken. In der Ferne schlug eine Uhr fünf.
Nachdem Tibor die Nachricht gelesen hatte, sollte Michener sie eigentlich vernichten, ohne selbst einen Blick darauf zu werfen. Clemens vertraute darauf, dass er seine Anweisungen befolgen würde, und Michener hatte seinen Gönner noch nie enttäuscht, auch wenn ihm seine Beziehung zu Katerina immer als Verrat erschienen war. Er hatte sein Gelübde gebrochen, sich der Kirche widersetzt und seinen Gott gekränkt. Das war unverzeihlich. Clemens allerdings hatte das anders gesehen.
Glaubst du etwa, du seist als einziger Priester der Versuchung erlegen?
Das macht es nicht besser.
Colin, Vergebung ist das Kennzeichen unseres Glaubens. Du hast gesündigt und sollst es bereuen. Das heißt aber nicht, dass du dein Leben wegwerfen sollst. Außerdem, war es denn wirklich eine so große Sünde?
Er erinnerte sich noch immer an den neugierigen Blick, den er dem damaligen Erzbischof von Köln zugeworfen hatte. Was hatte er damit sagen wollen?
Hat es sich wie eine Sünde angefühlt? Hat dein Herz dir gesagt, dass es falsch ist?
Die Antwort auf beide Fragen lautete damals wie heute: Nein. Er hatte Katerina geliebt. Diese Tatsache ließ sich nicht bestreiten. Sie war damals, kurz nach dem Tod seiner
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