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Urbi et Orbi

Urbi et Orbi

Titel: Urbi et Orbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: berry
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Eisengitter, die meisten Scheiben wurden von Klebeband zusammengehalten. Viele waren weiß überstrichen, und Michener fragte sich, ob man daran gehindert werden sollte, hinaus- oder hineinzusehen.
    Er rollte in den ummauerten Hof und stellte den Motor ab.
    Der harte Boden war dicht mit Unkraut bewachsen. Auf einer Seite standen eine verrostete Schaukel und eine Rutsche. Irgendetwas Schwarzes, Schmieriges lief an der gegenüberliegenden Mauer entlang und mochte der Grund für den fauligen Geruch sein, der ihn beim Aussteigen begrüßte. Aus der Haustür trat eine Nonne, gekleidet in ein knöchellanges, braunes Gewand.
    » Guten Tag, Schwester. Mein Name ist Colin Michener. Ich bin Geistlicher und würde gerne mit Hochwürden Tibor sprechen.« Er sprach Englisch, lächelte und hoffte, dass sie ihn verstand.
    Die schon etwas ältere Frau führte die zusammengelegten Hände vor die Brust und begrüßte ihn mit einer leichten Verbeugung. »Willkommen, Hochwürden. Mir war nicht bewusst, dass Sie Geistlicher sind.«
    »Ich bin im Urlaub und habe die Soutane zu Hause gelassen.«
    »Sind Sie mit Hochwürden Tibor befreundet?« Sie sprach ein ausgezeichnetes, akzentfreies Englisch.
    »Eigentlich nicht. Sagen Sie ihm doch bitte, dass ich ein Kollege bin.«
    »Er ist drinnen. Bitte folgen Sie mir.« Sie zögerte einen Moment lang. »Haben Sie schon einmal einen solchen Ort besucht, Hochwürden?«
    Eine seltsame Frage, fand er. »Nein, Schwester.«
    »Bitte versuchen Sie, mit den Kindern Geduld zu haben.«
    Er nickte und folgte ihr die fünf halb zerfallenen Stufen der Haustreppe hinauf. Der Geruch im Inneren des Hauses wa r e ine grauenhafte Mischung aus Urin, Kot und Verwahrlosung. Er atmete ganz flach, damit ihm nicht schlecht wurde, am liebsten hätte er sich die Nase zugehalten, doch er wollte nicht unhöflich sein. Unter seinen Schuhsohlen knirschten Scherben, und von den Wänden blätterte Farbe ab wie Haut, die sich nach einem Sonnenbrand schält.
    Aus den Zimmern kamen Kinder gelaufen. Es waren etwa dreißig, lauter Jungen vom Kleinkindalter bis zur Pubertät. Sie umdrängten ihn. Ihre Schädel waren kahl geschoren, wegen der Läuse, wie die Nonne erklärte. Manche hinkten, andere schienen ihre Muskulatur nicht unter Kontrolle zu haben. Viele schielten, andere hatten Sprechstörungen. Sie befühlten ihn mit ihren rissigen Händen, zerrten an ihm und kämpften schreiend um seine Aufmerksamkeit. Ihre Stimmen waren rau, und sie sprachen in verschiedenen Sprachen, überwiegend Russisch und Rumänisch. Einige fragten ihn, wer er sei und warum er gekommen sei. In der Stadt hatte er erfahren, dass die meisten von ihnen todkrank oder behindert waren. Die Szene wirkte noch unwirklicher, weil viele Jungen Röcke und Frauenkleider trugen, zum Teil auch zusätzlich zur Hose. Offensichtlich zogen sie einfach an, was ihnen passte, egal was. Alle waren mager und knochig, und im Moment bestanden sie fast nur aus Augen. Die wenigsten hatten Zähne im Mund. Arme, Beine und das Gesicht waren von offenen Wunden bedeckt. Er versuchte, jeden Hautkontakt zu vermeiden. Gestern Abend hatte er gelesen, dass viele der vergessenen Kinder Rumäniens mit AIDS infiziert waren.
    Er wollte ihnen sagen, dass Gott sie nicht vergaß und ihre Leiden einen Sinn hatten. Doch bevor er den Mund öffnen konnte, trat ein hoch gewachsener Mann in einem schwarzen Geistlichengewand in den Korridor. Ein kleiner Junge auf seinem Arm klammerte sich verzweifelt an ihm fest. Das Haa r d es alten Mannes war kurz geschnitten, und alles an seinem Schritt, seinem Gesicht und seinem Auftreten sprach von großer Sanftmut. Er trug eine Stahlrandbrille; seine großen, runden Augen waren braun. Er war mager und drahtig, doch seine Arme wirkten hart und muskulös.
    »Hochwürden Tibor?«, fragte Michener auf Englisch.
    »Wie ich hörte, sind Sie ein Kollege.« Sein Englisch hatte einen osteuropäischen Akzent.
    »Mein Name ist Colin Michener.«
    Der alte Priester setzte das Kind ab. »Dumitru hat gerade seine tägliche Therapie. Sagen Sie mir, warum ich ihn warten lassen sollte, um mit Ihnen zu reden?«
    Michener wunderte sich über die Feindseligkeit in der Stimme des alten Mannes. »Der Papst braucht Ihre Hilfe.«
    Tibor holte tief Luft. »Wird ihm etwa endlich bewusst, in welcher Lage wir uns hier befinden?«
    Colin Michener wollte unter vier Augen mit ihm sprechen, die Zuhörer und vor allem die Nonne störten ihn. Die Kinder zerrten und zupften immer noch an seinen

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