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Urbi et Orbi

Urbi et Orbi

Titel: Urbi et Orbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: berry
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Kleidern. »Wir sollten uns privat unterhalten.«
    Hochwürden Tibor taxierte Michener mit gelassener, fast ausdrucksloser Miene. Michener staunte über die ausgezeichnete körperliche Verfassung seines Gastgebers und hoffte, dass er selbst mit achtzig auch nur halb so gut in Form sein würde.
    »Nehmen Sie die Kinder mit, Schwester. Und kümmern Sie sich um Dumitrus Therapie.«
    Die Nonne nahm den kleinen Jungen auf den Arm und führte die Truppe den Gang hinunter. Tibor erteilte Anweisungen auf Rumänisch. Michener verstand sie zum Teil, wollte aber Genaueres erfahren: »Was für eine Therapie bekommt der Junge?«
    »Wir massieren einfach nur seine Beine, damit er vielleicht irgendwann laufen lernt. Wahrscheinlich ist es umsonst, aber andere Mittel stehen uns nicht zur Verfügung. «
    »Es gibt keinen Arzt?«
    »Wir sind schon froh, wenn wir genug zu essen für die Kinder haben. An ärztliche Hilfe ist nicht zu denken.«
    »Warum machen Sie das?«
    »Eine sonderbare Frage aus dem Mund eines Priesters. Diese Kinder brauchen uns.«
    Das Grauen, das er gerade gesehen hatte, ließ ihn nicht mehr los. »Ist es im ganzen Land so schlimm?«
    »Hier ist sogar eines der besseren Häuser. Wir haben hart gearbeitet, damit man hier irgendwie leben kann. Doch wie Sie sehen, bleibt noch viel zu tun.«
    »Geld?«
    Tibor schüttelte den Kopf. »Nur das, was die Hilfsorganisationen uns gelegentlich zukommen lassen. Die Regierung tut wenig für uns, die Kirche so gut wie gar nichts.«
    »Sie sind auf eigene Faust hierher gekommen?«
    Der alte Mann nickte. »Nach der Revolution las ich über die Waisenhäuser und beschloss, hierher zu kommen. Das war vor zehn Jahren. Seitdem war ich niemals weg.«
    Die Stimme des Priesters klang noch immer recht scharf, und so fragte Michener: »Warum begegnen Sie mir so feindselig?«
    »Ich frage mich, was der Privatsekretär des Papstes von einem alten Mann will.«
    »Sie wissen, wer ich bin?«
    »Ich bin nicht von der Welt abgeschnitten.«
    Andrej Tibor war alles andere als ein Dummkopf. Vielleicht hatte Papst Johannes XXIII. eine kluge Wahl getroffen, als er Lucias Niederschrift von diesem Mann übersetzen ließ . » Ich habe einen Brief des Heiligen Vaters bei mir.«
    Tibor ergriff Michener sanft beim Arm. »Das hatte ich befürchtet. Gehen wir in die Kapelle.«
    Sie gingen durch den Flur auf den Ausgang zu. Die Kapelle war ein winziger Raum, der Fußboden mit Karton ausgelegt und sandig. Die Wände waren aus nacktem Stein, die Holzdecke wirkte baufällig. Das einzige christliche Symbol war ein Buntglasfenster mit der Madonna. Die mosaikartige, farbenfrohe Gestalt hatte die Arme ausgebreitet und schien alle, die ihren Trost suchten, umarmen zu wollen.
    Tibor deutete auf das Bild. »Das habe ich nicht weit von hier in einer Kirche gefunden, die vor dem Abriss stand. Einer der Freiwilligen, die immer im Sommer kommen, hat es hier für mich eingebaut. Die Kinder hängen sehr daran.«
    »Sie wissen, warum ich hier bin, nicht wahr?«
    Tibor erwiderte nichts.
    Michener griff in seine Jacketttasche, zog den blauen Umschlag heraus und reichte ihn Tibor.
    Der Priester nahm ihn entgegen und trat ans Fenster. Er riss ihn auf und zog Clemens ’ Brief hervor. Mit ausgestrecktem Arm versuchte er, ihn im trüben Licht zu entziffern.
    »Es ist eine Weile her, seit ich zum letzten Mal Deutsch gelesen habe«, bemerkte Tibor. »Aber es kommt wieder.« Er las zu Ende. »Als ich dem Papst schrieb, hatte ich gehofft, er würde einfach tun, worum ich ihn bat, und keine weiteren Fragen stellen.«
    Michener hätte gerne gewusst, worum der Priester gebeten hatte, sagte aber stattdessen: »Haben Sie eine Antwort für den Heiligen Vater?«
    »Ich habe viele Antworten. Welche soll ich ihm geben?«
    »Diese Entscheidung können nur Sie treffen.«
    »Ich wünschte, es wäre so einfach.« Er deutete mit dem Kopf auf das Buntglasfenster: »Sie hat es so kompliziert gemacht.«
    Tibor stand einen Moment lang schweigend da, drehte sich dann um und sah Michener an. »Sind Sie in Bukarest abgestiegen?«
    »Wünschen Sie das?«
    Tibor gab ihm den Umschlag zurück. »In der Nähe der Piaþa Revoluþiei gibt es ein Restaurant, das Café Krom. Es ist leicht zu finden. Kommen Sie um zwanzig Uhr. Ich werde über die Angelegenheit nachdenken und Ihnen dann eine Antwort geben.«
    15
    M ichener fuhr südwärts nach Bukarest, den Kopf voll mit den Bildern des Waisenhauses.
    Wie viele dieser Kinder, so hatte auch er seine leiblichen Eltern

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