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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Größenordnung. Ich hätte mir wohl wirklich Weltruhm erwartet oder eben ein weltweites Anerkanntsein, und was darunter ist, erscheint in meinen Augen wie Mißlingen. Weiß nicht. Die ewige Abrechnung. Wenn ich erst wieder im schreibenden Abseits und Produzieren sein werde, hört ja dann das Zweifeln wieder auf. Durchgesetzt bin ich ja weiß Gott. Mein ärgerliches Verhältnis zu Ruhm und Erfolg. Gestern lief der Fernsehfilm, und PKW rief an, um erste Reaktionen zu vermelden, lauter schöne anscheinend, so von Fredi Murer. Der Film sei für die Solothurner Filmtage ausgewählt worden. Schwester war begeistert. Und ich denke an die Kosten für mein Begräbnis. Lebte ich vergleichsweise ebensolang wie Canetti, stünde noch ein Dezennium an. Das Vergessenwerden bei Lebzeiten ist bislang vermieden. Muß mal über meine Schwester und unser Verhältnis schreiben.
    Und über Weihnachten damals. Ja, wenn ich daran zurückdenke, war nur schon die fiebernde Erwartung die hochgereizteste Poesie für die beiden Nizon-Kinder, wie Emil Rötlisberger in die von ihm geschenkten Märchenbücher (Andersen, Grimm, Hauff) hineinzuschreiben beliebte. Der nahe Wald trug die Perlenschnüre des Schneebesatzes, die erleuchteten Fenster der Mietshäuser verhießen die Christbäume, alles atmete das Bevorstehen des heiligen Festes. Und wir in unseren inneren Schlitten glitten darauf zu. Alles hielt den Atem an, und die Seele entschwebte in das Land der Seligkeit. Und dann das Ankommen der Verwandten wie aus tiefstem nordischen Winter angefahren, sie erschienen geschenkebeladen; und der Christbaum war groß und geschmückt mit dem bis ins kleinste vertrauten Zweigangebinde, dem strahlenden Schmuck. Alle versammelt an der langen Tafel, Vater Mutter Großmutter Onkel Tanten Neffen und Kusinen, alle Teilnehmer und Figuranten einer weit zurückreichenden Tradition, die Dienstmädchen und den Hausburschen Werner nicht zu vergessen. Vorlesen der Weihnachtsgeschichte und Gebet. Das Entzünden der Kerzen. Das Festessen und zum Schluß das Geschenkeauspacken und das Herumliegen der Kinder vor den reichen Gaben, bis die Augen zufielen, während die Erwachsenen redeten und lachten und sich nahestanden und wir alle eine riesengroße Familie waren, fast so wie in den Dubliners von Joyce im Film von John Huston. Alles war Poesie. Schwester und ich die innig Verbündeten, lange war die Schwester die den Kleinen überragende Halbwüchsige, halb Beschützerin, halb Geheimnishüterin, nun, die nächste Mitspielerin eben, wenn sie mit ihren wohl schon pubertierenden Schulkameradinnen zusammen auch einer unbekannten Frauenwelt angehörte. Hatten nicht Schnee und Schlitteln und Kälte und der im eisigen Wind fast gefrierende Atem alles lange zuvor schon verheißen? Und nun war Weihnachten da. Schwester und ich immer zusammen, beim Schlitteln und auf der Eisbahn und im Hause zu Besuch bei den anderen Hausbewohnern oder bei Gottfried, dem Zimmerherrn mit den Schallplatten und Büchern und dem angebrachten Naschwerk und mit seinen diversen Ticks.
    Von Schwester später mehr.

    27. Dezember 2009, Paris
     
    Heute Sonntag bei wie neulich großer Kälte eine lange Busfahrt nach Montmartre unternommen. Erst hatte ich die Idee, ins 18. Arrondissement auf den langen afrikanischen Markt zu fahren, und geriet mehr oder weniger zufällig in den 95er Bus und sah mich unverhofft (?) über Saint-Germain in die Louvre-Gegend mit plötzlich sonnigen Ausblicken Seine-auf-und-abwärts und die Tuilerien in meine alte Heimat Palais Royal/Comédie Française mit den großen Architekturgebärden eintrudeln und über Opéra und Saint-Lazare gegen Clichy und über den Friedhof Montmartre in die Rue Caulaincourt (nun im 80er Bus) in meine alte erste Tantenwohngegend, die mir von den Fahrten ins Atelier (Rue André Barsacq) von neuem vertraut geworden ist, einmünden, Stimmung Fell der Forelle ; dann Jules Joffrin, Mairie 18 e , wo wir geheiratet haben und alles an die innige Liebeszeit, Besitzlosigkeit, Hoffnungsfreudigkeit erinnert; von da war ich damals immer mit dem Bus 31 ins Atelier Rue Troyon/Étoile/Wagram/Mac Mahon … ins Schreiben vom Jahr der Liebe gefahren (s. Buspassage im Buch).
    Nun war ich also wieder da. Und der kleine Montmartrebus war auch da, der Schnüffelhund. Den bestieg ich und fuhr nun kreuz und quer über die Butte Montmartre, über die Place du Tertre und die Place des Abbesses bis Pigalle hinunter – so wahnsinnig viel Erinnerungsversammlung aus den einsamen

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