Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
Vom Netzwerk:
noch Ruhe haben möchte beim Einschlummern vor der Fernsehkiste. Was war die verfluchte Schlafsucht, die Lethargie, die Verpuppung mit dem inneren Schwarmvolumen, mit dieser Mast, was war die Verstrickung, was waren die Stricke, die sie fesselten lebenslang?
    Wir hätten eine schöne Kindheit gehabt, meint sie. Nun, es war der Anfang von allem, es war Staunen und Überwältigtsein von den Anrufen des Lebens, vom Personenspektakel im Hause und in der Familienpension, von den Jahreszeiten, Feiertagen und Ferien; von den Nischen, in welche wir uns zurückzogen oder verkrochen, um unser Träumen und Wünschen gedeihen zu lassen; es war Mangel, vor allem an Familieneinbettung, wir waren zu früh in eine unverdauliche Unabhängigkeit bzw. Autonomie verstoßen, wir prallten uns wund an dem Ansturm von unbegreiflichem Lebensandrang mitsamt dem Krieg – um von der Schule und deren Bedrohungen ganz zu schweigen. Was sollte aus uns werden? Wir bangten unbekümmert oder ungewappnet auf das uns erwartende Leben, das möglichst großartig sein sollte – unbekümmert um fehlende Sicherheiten warteten wir in einer Entdeckereuphorie auf die Zukunft, eigentlich wie Auserwählte. Waren wir nicht, und sei es nur durch den väterlichen Hintergrund, aber ebensosehr durch die letztlich undurchschaubare Erwerbssituation mitsamt der großbürgerlichen Fassade beinah so etwas wie Groß- und Grundbesitzer, jedenfalls nicht im geringsten angehalten, uns auf ein Erwerbsleben vorzubereiten, eher schon um in Musik und Kunst und schönen Ideen zu schwelgen? Kommt daher der schwesterliche Größenwahn und in meinem Falle Elitismus? Man sah ja nicht, wie das Geld hereinkam, auch wurde davon nie gesprochen. Im Grunde sah man auf die Arbeitenden, die Arbeitnehmer, Angestellten, Abrackerer hinunter. Wir waren so etwas wie enteignete Angehörige einer höheren Klasse. Das blieb sogar in mir stecken, der ich anderseits nicht die geringste Mühe hatte, als Arbeiter auf eine Baustelle oder als Postbote Geld verdienen zu gehen, es war ja Taschengeld, für Reisen und dergleichen. In mir reifte ja der Dichter, und das hatte ja nur in ganz anderem Sinne mit Lebenskampf zu tun. Nur nicht sich anbiedern.

    13. Oktober 2009, Paris
     
    Beim Wiederaufnehmen des NAGELS. Gestern Il bell’Antonio von Mauro Bolognini wiedergesehen. Es ist ja nicht nur die aus höchster oder falscher Liebe herrührende »Impotenz«, was intrigiert oder auch anrührt, es ist auch – ich hatte es vergessen – die weibliche Verführung und Disponibilität, die geradezu massive, beinah bestialische Sexualität des Weibchenwesens, es gibt Szenen – ich hatte sie vergessen –, wo irgendwelche Politiker oder Notabeln aus Catania (das Ganze spielt ja in Catania) bei einem Empfang in einem Privathaus oder besser Palazzo eine Anzahl anziehender junger Frauen auf den Knien oder auf Sofas betatschen und vernaschen, man weiß nicht, sind es bestellte Freudenmädchen oder Frauen aus deren Kreisen, sie wirken nicht nuttig, nuttig ist der obszöne Zugriff und die Verbrauchsherrschaft seitens der Männer, doch wirken die Frauen wie fleischfressende Pflanzen, Verschlingerinnen, als wäre einzig die in einer jeden steckende Gebärerin und Fortpflanzerin von Bedeutung, die Fruchtbarkeit, die Fortsetzung der menschlichen Art; und entsprechend wichtig bis zentral ist die virile Potenz – das Fehlen derselben eine Schmach, ein Fluch. Und ebendiesen Fluch trifft den von Mastroianni gespielten jungen Helden, der der ihm zugedachten Ehefrau aus besten und reichsten Kreisen, eine an sich arrangierte Ehe, in einer Weise der Anbetung verfallen war, daß er sie nicht zu nehmen, nicht zu entjungfern, nicht zu schwängern imstande ist, mit anderen Worten: nicht fähig ist, sich ihr im Fleische zu vereinen, also zu vermählen. Was zur Annullierung der Ehe führt und in den Augen nicht nur der Familienangehörigen, sondern der ganzen Stadt eine Schande ist, eine Schmach. Ein Fluch. Impotenz aus Liebe, aus vergöttlichender Liebe. Liebeskrank. Die junge Frau, von Claudia Cardinale gespielt, ist die Reinheit in Person, die reine Schönheit, Quellwasser, unberührt und wohl für die Mehrheit der Männer eine zu kostende Frucht. Nicht für den Helden. Man weiß nicht recht, ist er nicht doch ein wenig weibisch? Nein, er ist gewissermaßen kastriert vor Liebe. Sie ist ein Engelwesen in seinen Augen, das Überirdische, er kann das auch in ihr schlummernde mütterliche Verlangen nicht stillen, nicht befriedigen,

Weitere Kostenlose Bücher