Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
Vom Netzwerk:
insofern ist er ein Verräter an ihr. Was mich interessiert, ist – über meine Maria-Story hinaus – der brüllende Anteil Fleischeslust oder purer Sexualität in der Liebe, diese Folter der Fortpflanzungsbestie in uns, die anscheinend nicht zu sublimieren ist. Und letztlich im Widerstreit steht mit der Innigkeit des anderen Vereinigungsstrebens, wäre es der göttliche Anteil? Vergöttlichung bis ins Unberührbare als Gebot? Möchte man das Göttliche nicht herunterziehen? auf die Ebene der realen Traktabilität? also Fleischlichkeit? In meinem Falle, denke ich an die frühen Jahre zurück, war es auch die Zurückweisung, Liebe in Familie übergehen und wohl darin verkommen zu lassen. Es sollte die Liebe mit dem unaufhörlichen Gefallen des einen am anderen rein oder total erhalten bleiben. Sie sollte nicht von Gewöhnlichkeit befleckt und verbraucht werden. Nun, was den Film angeht, so macht der Held seine Schwäche wieder gut, indem er das Dienstmädchen schwängert. Doch ist er dadurch nur in den Augen der vielen vom Verdacht oder Verdikt der Unmännlichkeit erlöst. Er hat das Göttliche, die Liebe geopfert. Er wirkt wie ein vom Gift der tiefsten Enttäuschung Ereilter, ein von der Menschheit Abgenabelter. Was wäre der Liebeszauber, den er nicht hergeben und nicht abtauschen wollte? Egoismus Vermessenheit Schuld – zumindest in den Augen der menschheitserhaltenden vielen.

    16. Oktober 2009, Paris
     
    Das Wunder des Entzückens, das wunderbare Gefallen aneinander, das wir das Liebesgefühl nennen können, sollte nicht auf die Erde und damit auch nicht, wenigstens nicht gleich, in die fleischliche Verschlingung und damit in die Blindheit des Rauschs (?), in das Verbrauchen heruntergeholt und damit ins Profane gewendet werden, es soll quasi vor den Toren im Stillstand der Anbetung verharren, in der hohen Regel der Heiligkeit, darum das Unberührbare (bei einem Bell’Antonio und in der Maria-Story). Es soll so sein wie auf den griechischen Grabreliefs, ganz Anfang und gleichzeitig Vergangenheit, weil an der Schwelle des Todes. Es soll im Anfangslicht der Verzauberung und damit des Göttlichen verharren. Die Männer sind wie vom Schlag des Wunders ereilt.

    26. Oktober 2009, Paris
     
    Wenn ich abends, etwa an einer Bushaltestelle, in beleuchtete Wohnungsfenster der so schönen pariserischen Bürgerhäuser starre, gerate ich in neidvoll träumerische Andachtsstimmungen, als geschähe in jenen Innenräumen das Schönste und alles, was mir unbehaustem Außenseiter abgeht. Dabei weiß ich wohl, daß in den verborgenen Intérieurs ebenso Langeweile und Haß herrschen und die Rituale des Immergleichen ablaufen mitsamt den menschlich verpaßten Gelegenheiten unter den Insassen, warum nur mein Neid, warum Wunschträume und Wehmut? Ist es, weil ich es mir zutiefst wünsche, das Miteinander, das Familienleben, das Aufgehobensein in liebendem Kreise? Weil ich es nie gehabt, nur immer entbehrt habe. Nie gehabt das liebende Vertrauen der Familienangehörigen untereinander, nie den Austausch, nie den Schutz. Nie Muße und Freiheit für das eigenste Werden und Tun innerhalb des Gesicherten. Nicht in der Kindheit und Adoleszenz und auch später nie in meinen eigenen Ehen, weil ich innerlich gejagt oder bedrückt war aus lauter eigenen Anforderungen, die ich wie der Hund den Knochen in Sicherheit zu bringen suchte, mich abwendend. Oder in wildernde Phantasie von einem anderen Leben verstrickt war. Was ich beim Anblick erleuchteter Fenster fremder Wohnungen beträume, ist wohl Wunschdenken: von einem anderen besseren schöneren Leben in gegenseitiger Achtung und Liebe. Das Aufgehobensein. Es ist immer das andere Leben. Projektionen aus der Einsamkeit.

    11. November 2009, Armistice
(Feiertag Waffenstillstand 1918), Paris
     
    Am Vormittag wars zwischendurch sonnig gewesen, und danach habe ich den Tag zu Hause verplempert, obwohl ich ein bißchen telefoniert und in Millers Rimbaud-Buch, Vom großen Aufstand , gelesen habe, mit gemischten Gefühlen, weil ich Millers wilde philosophische Verkündigungen, typische Privatweltanschauung, mit tausend Wissensverweisen auf eine das Thema einkreisende Familie verwandter Geister, nicht sonderlich mag, es ist mir zu gewaltsam, zu anklägerisch, zu persönlich, falsch ausgedrückt – wenn ich untergründig auch mit ihm einig gehe. Dabei mußte ich immer an die große Spinne denken, die ich unter einem übergestülpten Glas gefangen halte, bis die Concierge oder ihr Laub rechender Gemahl

Weitere Kostenlose Bücher