Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Bunsenbrennern, die Säcke mit Pulvern, das Aromatische in der Luft, die Gestelle mit Reagenzgläsern und dann die Notizen auf dem Schreibtisch, der Schreibtisch samt Telefon. Und irgendwie wußte ich ja, daß das Ganze mit Heilkräften zu tun hatte, also mit Medikamenten letztendlich. Nun, das Wissenschaftliche gehörte zum Chemiker und das Gedankenprogramm vage zum Philosophischen, wohinein auch die Naturheilkunde gehörte, eine Lebensanschauung. Ich sage das, weil auch in mir etwas von Wissenschaftlichkeit (Naturwissenschaft) stecken mag und überdies eine heilsame Hand manchmal sich regen möchte, wenigstens ein dahingehendes Interesse vorhanden ist. Und somit hätte das väterliche Vorbild, wie wenig davon auch bewußt ist und benennbar wäre, eine Spur hinterlassen.
8. März 2010, Paris
Neulich in Berlin beim Lesen und Diskutieren meiner Journalprosa war ich irgendwie wunderbar glücklich über diesen meinen (anderen) Arbeitszweig; ich sagte, daß die Journale das Flußbett meiner Bücher seien und daß mir dieses Aufschreiben besonders entspreche und glücke. Und in großen Abständen sondert dieses fließende Gemenge Figurenteiche aus, die zu Büchern, zu komponierten Erzählungen grimassieren. Selten genug. Das Journalschreiben geschieht leicht unbeschwert verantwortungslos, ich nannte es früher einmal Warmschreiben. Im Grunde ist es einfach Schreibtätigkeit, ich sagte im Gespräch mit Thomas Stölzel und dem Publikum, diese Art Schreiben hätte ich sehr früh und ohne jede literarische Absicht zu praktizieren begonnen, einfach weil ich gerne schreibe, so wie Robert Walser von sich behauptete, er habe mit dem Schreiben begonnen, weil er so gerne Buchstaben gemalt habe, bei ihm wäre also das Schreiben aus einer (kalligraphischen) geradezu handlichen Neigung oder Vorliebe hervorgegangen, inhaltslos! und ich zitierte Roger Federer, den größten Tennisspieler aller Zeiten, von dem ich die Bemerkung gelesen hatte, er kenne keinen Menschen, der so gerne Tennis spiele wie er. Das Schreiben als gewissermaßen physisches Bedürfnis, so etwas. Es ist natürlich viel mehr. Es ist das Verwandeln von Hirn- und Gefühlsgesicker, das als diffuse Vorform von Welterleben und Selbsterleben (beim Welterleben) gelten darf, in Wortbahnen, Anschauungen, Sprachabläufen. Es ist das Übertragen von alledem in Schrift und Text, es ist das Wirklichmachen, selten einmal von einem Sehblitz ausgehend, es ist anspruchslos und letztlich anspruchsvoll, letzteres im künstlerischen Sinne, denn da ist die Latte ja hochgelegt. Ein ungeschriebener Tag ist kein Tag, weil kein an mich gebrachter Tag, bloß Finsternis und Verpaßthaben.
Was den Lebenden alles durchquert und erreicht in seinem geistigen Innenraum. Erinnere mich, daß ich beim Tode von Armin Kesser eingedenk der geistigen, wahrlich universellen Versammlung, eingedenk dieses WISSENS oder Universums davor schauderte – ich stockte, es zu denken, wohin dieser geistige Raum, diese andere WIRKLICHKEIT mit dem Erlöschen der physischen Person hinkomme. Ob sie auch erlösche. Und ob die Leistung ebenfalls für nichts gewesen sei bei einem wie Kesser, der so wenig Schriftliches oder Gedrucktes hinterlassen hat. Es war nicht der Verlust, was mich schaudern ließ, es war die Unvorstellbarkeit eines an einen Geist gebundenen Raums, ein Raumschwindelgefühl, etwas wie Überschallgeschwindigkeit oder Ewigkeit, nein, Unendlichkeit, wenn das Kind es zu denken versucht. Ein Schaudern. Eine Anfechtung. Ein Entsorgungsproblem.
15. März 2010, Paris
Mit Xenia – wunderbare gemeinsame Tage – und Igor in der Ausstellung Lucian Freud im Beaubourg gewesen. Natürlich ist man schockiert von dieser Ausbreitung von großformatigen Akten von vorwiegend alten bis difformen Körpern, Nackedeien der Häßlichkeit, die nackte Wahrheit fürwahr, sagt sich der Besucher, wie kommt der Maler nur zu dieser Thematik und Ausschließlichkeit? Vielfach sind es Selbstdarstellungen, der Maler alt, an die neunzig, würde ich denken; und was ebenso erstaunlich ist, scheint der Erfolg, die höchsten Preise, das höchste Ansehen. Und das in einer Zeit, wo das Körperideal überirdisch geschönt und geliftet und rank und schlank und ohne Makel ist – soweit die Gazetten, die Werbung, die Mode es zeigen und befehlen. Freuds Farbigkeit ist fahle Fleischfarbe, die Körperlichkeit faltig und wulstig und ohne Scham inklusive die Geschlechtsteile, all die Hodengehänge und fürchterlichen Penisse mit der
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