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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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sie mir vom Leibe schafft, morgen werde ich darum bitten. Ich hatte gedacht, da liegt ein welkes Blatt, und merkte erst im letzten Moment, daß es eine Spinne war, die in völliger Unbeweglichkeit mit den gespreizten hackigen Spinnenbeinen da am Boden lag, und tottreten wollte ich sie nicht, aber vor einer Berührung hatte mir gegraust, und als ich auf den Einfall mit dem Glas kam, nahm ich allen Mut zusammen und setzte sie gefangen, und dabei kam sie in Bewegung und flatterte geradezu mit den langen zackigen Beinen. Ich hatte sie eines Morgens beim Aufmachen der Fensterläden erstmals entdeckt, als sie geradezu vor meiner Nase wie aus dem Nichts heruntergeflattert war, doch glaubte ich sie ausgesperrt zu haben, und nun war sie da und ist immer noch da unter dem Whiskyglas, und ich denke, daß sie mich hört, wenn nicht beobachtet und daß ich sie quäle mit dem Sauerstoffverlust und dem Aushungern, ich bin wie hypnotisiert von der gefangenen großen Spinne gleich neben der Eingangstüre, es ist Kafka, es ist wie die Verwandlung , es ist schrecklich. Morgen lasse ich sie aus dem Weg schaffen, hoffend, daß sie sich nicht davon und über mich hermache; oder in meinen Räumen verkrieche. Da war schon einmal eine riesige Spinne schwarz an der Wand, ich weiß nicht mehr, war es in dem verlotterten Haus am Nemisee, das Odile und ich eine Weile bewohnten, oder war es in Paris, und wir dachten, die beängstigende Spinnengegenwart, diese schwarze Ausgeburt an der Wand oder auf dem Vorhang sei der Geist der ermordeten Daniela, weil es an der Wiederkehr ihres Todestags war.
    Scheußliche Tagverbringung, und vielleicht ist die ganze Angst auch die Furcht, ich fände nicht in das Buch zurück, weil es womöglich nicht nur an dem Problem der schriftlichen Ingangsetzung oder Weiterführung, sondern an barem Stoffmangel liegen könnte, einfach darum, weil ich nichts unter den Zähnen, nichts im Beutel, nichts zu schreiben habe. Mal sehen, Spinnenängste, Schreibpanik und Alter und Tod. Und Odiles nicht gerade aufheiternde Telefonate, weil sie einmal mehr in den schwärzesten Launen und Gedanken steckt und mich lähmt.

    22. Dezember 2009, Paris
     
    Es ist jetzt die ganze Geburtstagsfeiersträhne am Verklingen und Abebben, gestern sind die aus Wien hergereisten Stefan Gmünder und Esther Hecht und vor ihnen der aus Berlin gekommene Martin Simons und danach die lieben Walhuns abgereist, meine kleine Wohnung war eine Empfangsarche gewesen, vor und nach der zauberhaften, von Actes Sud ausgerichteten Abendessenseinladung für vierzig Personen in dem noblen LAPEROUSE, eine lange Tafel stilvoll wie das mehrstöckige Restaurant mit all den Salons und Sälen für intime Gesellschaften, ja, ich war der Gefeierte; und am andern Abend mit Skwara und Sue-Anne bei Natasha in meiner Straße; wiederum Abendessen, zu viert, privatim. Im Lapérouse war die Überraschung die Anwesenheit so vieler gemischter Nizon-Anhänger, gemischt aus Verlagsfreunden und Privatfreunden und meiner kleinen Familie. Und vordem die Nizon-Feier im Literaturarchiv der Bernischen Nationalbibliothek mit Vorträgen, ganz wunderbar, zu meinen Journalen, mit Hörning von deutscher Verlagsseite und Kässens. Danach der Abend mit Peter Hamm im Literaturhaus Zürich vor gerammelt vollem Saal. Ich hatte ungeheuer viel Öffentlichkeit, wie Hugo Sarbach schreibt, wahrlich. Und den ganzen Monat war Dieter Bachmann in Paris, von dem ich mich vorgestern vormittag im Café Select verabschiedet habe (am 17. 12. zu seinem Geburtstag im Restaurant Hotel du Nord).
    Und jetzt endlich wieder an der Schreibmaschine. Die jüngste Neuigkeit: Ich habe eine Schreibmansarde in der Rue Linné, dank Piller. Ab Beginn des kommenden Jahres.
    Meine vorerst letzte Atelieradresse, die Mansarde ärmlich miserabilistisch wie in meinen Anfängen, jedoch mit Blick über die Dächer auf Notre-Dame, das Zimmerchen in der Panthéon-Gegend, grob gesagt. Bin ganz schön stimuliert.
    Es ist ja nicht so, daß jetzt mit dem Enden des Jahrzehnts der letzte Journalband fällig wäre und würde. Ich werde einfach über das Dezennium hinaus weiter notieren und dann, wenn das Notieren und mein Leben aufhören, einen Nachfolgejournalband auftischen und publizieren können. Doch zuerst der Roman.
    Viel Öffentlichkeit, ja, was wiederum, bedenkt man die ruhmesmäßige Schieflage, meinen Sonderfall beleuchtet und untermauert. Nun, vielleicht ist meine diesbezügliche andauernde Beunruhigung einfach ein Problem der

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