Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
aufgerührt von dannen. Das Krankhafte ins Auge fassen müssen. Und dann? Und was ist mit meiner Geselligkeit, Offenheit, Ansprechbarkeit und manchmal überbordenden ansteckenden Lebenslust (die mir auch immer wieder attestiert wurden)? Maniakodepressiv? Um Depression handelt es sich offenbar zweifelsohne. Kommt ja sogar im Jahr der Liebe vor. Das Solipsistische sogar in Derivières Buch. Aber auch die Lebensfeier und Lebensliebe werden ja immer hervorgehoben.
30. Juni 2001, Paris
Warum ich nur alles Kollektive so sehr hasse? Sogar Igors BOOM vorgestern abend, die ich natürlich floh, fünfzehn tanzende Kinder in der Wohnung, Musik in höchster Lautstärke, wie man mir sagte, um von dem Hin und Her, den Ballungen, Laufereien, dem Gekreische etc. ganz zu schweigen, erfüllte mich mit Mißtrauen bis Abscheu, warum nur, ist das Eifersucht, weil ich selber zu so etwas nie fähig war und weil es mich mit Verdachtsanwandlungen hinsichtlich Herdentriebs erfüllte, Igor wie alle anderen, warum nur dieser Haß auf Gemeinschaftsneigungen, die ich gleich mit Durchschnittlichkeit, Mittelmäßigkeit, Normalität, Normalverbrauchertum gleichsetze, und dahinter wäre und drohte das Gespenst des schalen kleinen Glücks und mehr: des Massendaseins. Ist für mich nur das Randgängerische, das Querstehen, Einzelgänger- und Rebellentum annehmbar und vielverheißend, das Superindividualistische? Für mich waren als Kind schon Schulreisen panikauslösend, von Klassengeist, wie es in der Schule hieß, keine Spur. Und bei den Franzosen, wo ja das Leben mit den copains so wichtig ist, les copains d’abord, ein Mythos, für mich verdammenswert, weil Horde. Dabei müßte ich wissen, daß die Kleinen ja lange wie junge Tiere im Hordenverband oder später Bandenwesen, in solchen Zugehörigkeiten existieren und daß sie da hindurchmüssen, solche Verbände lösen die Familie ab. Ich gehe immer davon aus, daß nur ein außerordentliches Leben lebenswert und überhaupt eine Antwort auf das Dasein sein kann, das Selbstdenkertum. Ich glaube, ich habe schon als Kind in den Zügen der Kameraden die späteren Erwachsenen und Spießer nicht nur gewittert, sondern buchstäblich gesehen, erkannt, die Versager, Schmalspurkonsumenten, ich wollte nicht zu ihnen gehören und mich nicht gemein machen, ich war zu anderem ausersehen. Ich lehnte die Gruppe ab. Und kann heute noch bei Volksfesten und ähnlichen Volksvergnügungen nur schaudern, jedenfalls zieht es mich nicht da hin, ich gehe derlei aus dem Wege wie der größten Gefahr. Ich kann nicht aufgehen in einem Gruppen- oder Massenkörper. Was solche Ballungen auslösen, ist für mich Primitivverhalten, ich will nicht vom Einzelsein erlöst werden. Darum auch der Horror vor Tanzenden, für mich als Schauspiel schlicht animalisch. Und ich wünschte mir eben, daß mein Söhnchen ebenso fühlte und reagierte. Solches Aufgehen mag anderen Erlösung und Befreiung sein, für mich ist es Auslöschung.
Sind denn nicht in allen großen Mythen, Literaturen und Filmen, besonders von Anwärtern auf eine außerordentliche Lebensbahn, immer die Momente beschrieben, wo der Einzelne aus der Horde oder dem Verband oder der Gemeinschaft austritt und sich aufmacht und auf den eigenen Weg macht, siehe I vitelloni oder Roma von Fellini. Es ist das Ausbrechen und Einzelwerden, das am Anfang eines nennenswerten eigenen Wegs steht und nie das Kollektiv, das Kollektiv ist Normierung und in seiner deutlichsten Manifestation die Armee, und das Kollektiv ist Überwachung, daß nicht ausgebrochen und nichts Außerordentliches unternommen werde, ist Niederhaltung, Beschneidung, Mittelmaß, Einübung in das Geringe, in die falsche Bescheidung. Der Herdentrieb der Todfeind des Individuums. Offenbar empfinde ich dementsprechende Neigungen meines kleinen Burschen bereits als Verrat. Das Denken ist Angelegenheit des Einzelseins, Herausgelöstseins. Ich kann nur mit einzelnen verkehren und zu Rande kommen. Der Preis dafür ist eine gewisse Einsamkeit, doch davor fürchte ich mich nie. Kurzum: Kollektiv nein, Geselligkeit ja, weil Dialog und nicht gleich Hysterie bzw. Rausch und Wahnsinn. Bewußtsein gegen Bewußtlosigkeit. Humanität gegen Primitivität. Wie der Psychiater sagte: Vielleicht zählt zu meiner alljährlichen Sommerfinsternis auch die Abneigung gegen das Sich-Gehenlassen, das animalische, weil zur Nacktheit neigende »Kommunizieren« der vielen. Ablegen der Bekleidung, Entblößung, Selbstentblößung mit Berührungs-,
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