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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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während ich jetzt ebenso objektiv auf der Rutschbahn in den Tod hinein figuriere, das verfluchte Alter, konnte ich damals zähneknirschend murmeln, es war aber bloß Vorwegnahme und nicht wie heute. Ich bin heute ja auch allen möglichen Phänomenen gegenüber ganz anders entfremdet als damals, der ganzen Musikszene zum Beispiel, ich sehe mich vor dem Fernsehgerät wie ein Bilderbuchalter gehässig reagieren auf alles und jedes. Wären nicht die Journale auf der Habenseite zu verbuchen, dank Kässens; wären nicht immer wieder Anfragen seitens Journalisten … Der Engpaß wäre tödlich. Das einzige, was bleibt: das Welt-, das Leben-Erschaffen: mit Schreibfingern.
     
    Die Liebe ist letztlich immer ein Mißverständnis.
    Ich sah in der Metro oder sonstwo in einem öffentlichen Verkehrsmittel eine junge Frau ihren Begleiter mehrmals küssen und dachte: Gedankenabwesend; der Kuß galt nicht dem Mann oder Liebsten, der ihn stolz auf sich bezog, er war Abfall einer viel allgemeineren Zärtlichkeits-, wenn nicht Fürsorglichkeitsbegabung, einfach Abfall oder Überschuß.
    Mann und Frau ziehen nie am selben Strick, sie können später aufgrund gemeinsamer materieller Interessen eine gute Freundschaft, Kollegialität, Partnerschaft entwickeln, nie das tiefste Einverständnis.

2001
     

    9. Januar 2001, Paris
     
    Die neue Paarsituation ist schrecklich. Weiß der Himmel, was Odile mit ihrem neuen Aufleben, ihrer dezidierten Aktivität, das heißt demonstrativen Unabhängigkeit bezweckt. Ich sehe mich auf einem Abstellgeleise, wenn nicht hinausgedrängt, und so soll es ja wohl auch sein. Darum die auf mein neues Quartier auf der Butte Monmartre verwandte Dynamik und Sorgfalt. Délogé ist das Wort für meinen Platz. Donnerstag nacht bis zum frühmorgendlichen Eintreffen von Odile zurück von ihren nächtlichen Verlustigungen ist mir zumute wie »heute heiratet meine Frau«, finde keinen Schlaf. Das Ganze hat nicht nur einen beleidigenden, sondern einen herausfordernden, provokativen, vor allem einen Ablösungs-Aspekt. Auch wenn sie da ist, ziehe ich es neuerdings vor, oben in meiner Bibliothek auf dem Sofa zu schlafen. Getrennte Leben, da es für die Scheidung bislang an Willenskraft nicht reichte. Nun, unsere Liebe war wohl wirklich ein Mißverständnis. Wir waren zwei in sehr verschiedenen Lebensaltern und -lagen vom gleichen Bedürfnis nach Lebensintensität und Liebesraserei erfüllte, angeschlagene Existenzen, die annahmen, sie seien verwandte Seelen, âmes-sœurs, und eine Zeitlang waren wir ja wirklich, wenigstens in meine Augen, ein Leib und eine Seele, ganz und gar verschmolzen, doch mit der Zeit machten sich die verschiedenen Hintergründe und kulturellen Mitgiften immer deutlicher bemerkbar, vor allem als ich mich wieder ins Schreiben und diesen Alleingang warf, wurde die Lage dramatisch, und die Studentin Odile, ihres englischen Milieus und Werdegangs beraubt und ohne rechten Platz in meinem Leben, driftete in Einsamkeitsanfälle und krankhaften Isolationismus und erschuf sich nach dem Studienabschluß über das Arbeitsleben eine eigene, immer mehr nach Karriere aussehende Existenz, Emanzipation, getrennte Domizile, sie mit Klein-Igor in der Schweiz, ich in Paris, und hernach mit dem Erwerb der Nizon-Festung an der Rue Saint-Honoré erwies sich der erneute Familienzusammenschluß als sehr wacklige Lösung, immer weniger Gemeinsames und Gemeinsamkeit. Und nun wäre sie eine Gerettete und ich auf der Strecke geblieben.
    Ich bin nun de facto zu einer Poeten- und Schaffensexistenz geradezu verknurrt in meiner Montmartre-Absteige, nur daß ich mittlerweile siebzig bin. Nun, fürs Schreiben und die Werkabrundung oder -Konsekration sind oder wären die Weichen gestellt. Von Odile gestellt? Von mir mitgewollt?

    8. Februar 2001, Paris
     
    Mein Herz … mein geschundenes Herz. Was meinte ich nur mit diesem Satz? Mir fehlte nichts, und dennoch war mir, als wäre der Kummer zu groß, als wäre das Leid zu schwer, als wäre die Last nicht mehr zu tragen. Als müßte das Herz gleich brechen und ich mit ihm, niederbrechen, hier in dieser unansehnlichen Wohnung, in der ich nichts zu suchen hatte. Zusammenbrechen. Schreib es weg. Nein, das dachte ich nicht, damals bei meinem ersten Eintritt in die Bleibe, die die meine sein würde. Ich dachte überhaupt nicht sonderlich an mich oder besser an meine Lebensumstände, mein Leben. Ich dachte an die Dinge in dieser Wohnung, die verwaisten rührenden niedrigen Gegenstände in ihrer

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