Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Differenzierungs- und im Grunde Hebungsarbeit, ist also Ausdruck eines nur diesem Autor zugehörigen Prozesses, Erinnerungsprozesses? Wie immer, die Anstrengung des Lesens, die Leseleistung wird reich belohnt.
Die neutrale Beschreibung und in immer weitere Ringe sowohl der Wahrnehmung wie des Bedenkens ausufernde, stets neutral bleibende Vervollständigungssucht kommt vom Nouveau roman her, geht aber weit darüber hinaus, weil sein Chor der Beschwörung geheimnisvoll eine Größe, ja Majestät intoniert, die ich wie die antike Tragödie empfinden kann. Bin mir nicht sicher.
Bin jetzt schon längere Zeit allein, Odile und Igor in der Karibik, wie ja auch Valérie mit Familie und sogar die Bertis in Italien sind, alle Angehörigen fern. Die Temperatur übersteigt die 30 Grad, ich bin nicht niedergedrückt wie sonst immer im Sommer, jedoch faul und verlangsamt, etwas unlustig, was das Arbeiten betrifft. Neulich kam mir innerlich vor Augen, wie ich Odile bei einem ihrer Besuche in Paris, sie lebte noch in London und war dann eines Tages unter diffusen Vorwänden an meiner Rue Simart im Schachtelzimmer aufgetaucht, und für mich war es die Wiedergutmachung nach dem Erlittenen oder doch der Vorbote, noch war nichts gewonnen, noch gehörten wir uns nicht an, das Wochenende war ein Glücksfall, ein möglicher Vorgeschmack – wovon? Von der liebenden Vereinigung, Verschmelzung, von welchen ich in meinen kühnsten Hoffnungen geträumt hatte. Ein Leib und eine Seele. Ein Untergehen darin. Und dabei kannten wir uns ja überhaupt noch nicht. Es sollte hernach zu den schmerzhaftsten Entfernungen, zum Abfall kommen. Aber an diesem einen Wochenende hatten wir es gehabt. Und nun begleitete ich Odile an die Gare du Nord, ein sommerlicher Sonntagabend war’s, glaube ich. Wir wankten in dieser Umschlingung, die einen nicht richtig gehen, nur stolpern läßt, auf den Perron, besessen vom Drang nach der unmöglichsten körperlichen Nähe oder der Furcht, aus der Nähe zu fallen. Und dann lagen wir uns in den Armen, auf dem Perron, auf dem Tritt des Zuges, beim Anfahren des Zuges, bis … der Zug uns trennte und ich zurückblieb auf dem fürchterlich leeren Bahnsteig, wo ich bis zum Verschwinden des roten Schlußlichts verharrte. Und dann das blinde benommene Heimgehn.
Ich notiere diese wenig interessante, weil allen Liebenden eigene Szene, weil ich heutigentags oft mit befremdlichen bis amüsierten Augen dasselbe Verhalten bei Paaren vor Zugabfahrt beobachten kann und schreien möchte: Wahn, alles Wahn, et demain les pas des amants désunis. Es ist ja gerade der Liebeswahn, die Abhängigkeit von der Droge Liebe, dieser Zustand so nah an der Verzweiflung mitten im Glück, wenn es denn Glück wirklich gäbe, was mich erschauern läßt.
Was Odile betrifft, so dachte ich neulich, es sei eben doch nicht nur diese verrückte körperliche Verhexung gewesen, sondern ein Überfließen von Liebe. Kann mich erinnern, daß ich ihr einmal nachts in einer Bar, und der Barpianist spielte und spielte auf unseren Seelen, sagte: Noch im Grabe würden unsere Gebeine sich küssen, umarmen. Unstillbar war nicht nur das Verlangen, sondern das Liebesvermögen. Liebessehnen? Ein Überfließen von Liebe war es.
Zurück zu Claude Simon. L’Acacia. Interessant die Zerschnipselung der Saga in viele Personen(groß)bilder in der Zeit, und zwar für einmal nicht in chronologischer Folge, sondern in einem Vor und Zurück zwischen 1914 und 1940, also den beiden Weltkriegen und 1880 bis 1982. Eine Streuung vor und zurück quer durch ein Jahrhundert.
4. Dezember 2001, Paris
Odile hat eine Wohnung gefunden, ganz in der Nähe, Rue Chabanais, und wird wohl zwischen Weihnachten und Neujahr ausziehen und umziehen. Danach die Scheidung. Die zweistöckige Wohnung, unsere Festung, bleibt vorerst erhalten, hauptsächlich Igors wegen, möglicherweise wird sie hier ihr Büro unterhalten. Von einem Verkauf wird auch darum vorläufig abgesehen, weil jedermann sagt, diese unsere doch sehr gelungene gemeinsame »Schöpfung«, zieht man die unerhörte Lage in Rechnung, sollte nicht leichterhand und vorschnell liquidiert und verscherbelt werden. Für Igor ergibt sich die Illusion einer Kontinuität, wenn auch die Realität hart genug einbrechen und zuschlagen wird, auch für mich natürlich. Odile hat das Ganze zielstrebig und souverän und irgendwie großartig betrieben. Im Hintergrund spielt auch eine Art Hoffnung mit, auf diese Weise aus der Liquidationsmasse und
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