Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Verschwisterungs- oder Verschmelzungstendenzen gleichbedeutend mit Ablegen von Denken, Kontrolle, Würde, Stolz? Er aber liebte Mäntel.
7. Juli 2001, Paris
Natürlich bin ich auch überaus gerne in die Ferien gefahren, als ich klein war. Wir fuhren, Mutter, Schwester und ich, sieben Jahre hintereinander aufs Land in ein Chalet und verbrachten den Sommer mit den Bauern und Bauernkindern, für uns Kinder paradiesisch. Danach manchmal bei einem Onkel, dem reichen Onkel und Drogisten, vor allem den Kusinen, im bernischen Seeland. Das Dorf hieß Täuffelen, und wenn ich mich nicht irre, war Robert Walsers Schwester Lisa dort oder in nächster Nähe Dorfschullehrerin gewesen. Seeland – der Titel eines Walserschen Buches. Ich glaube, bereits in Igors Alter oder kurz danach war ich nicht mehr richtig soziabel. Oder nicht mehr unschuldig und insofern nicht mehr für Normalverbrauchertum zu haben. Ich war bereits dabei, mir einen aus Büchern und Träumereien gestohlenen oder entlehnten (geliehenen) eigenen Lebensroman und eine damit zusammenhängende Schönheitssucht, alles in allem ein ENTKOMMEN, zu kreieren, ein Zweitleben zu erfinden, in welchem die Drogen Schönheit und Seele, in welchem Betörung eine große Rolle spielten. Ich könnte auch von Glücksanspruch sprechen.
Die besonnte Rue Custine entlang, nachmittags, vorbei an der kleinen Eckbar mit den wenigen Gästen an der Theke mit ihrer sich dahinziehenden, mich nicht betreffenden mageren Konversation und den paar jetzt geschlossenen Restaurants und Läden, und nichts in der Luft, kein Vorhaben, kein Wesen, das mich erwartete, weder Ziel noch Verlockung, nur die besonnte Nachmittagsstraße einer Gegend in einem Quartier, das mich nichts anging mit Ausnahme des Umstands, daß ich da wohnte, doch niemanden kannte. Und die langweilige Leere war voller Abkehr, voller Zurückweisung, sie schmiß mich in die Öde des eigenen Überflüssigseins, eines marternden Zeithabens ohne Aussicht.
Ich ging in der Glocke des Ausgeschlossenseins und in einer Scham nicht zum Aushalten. Was tun? Wohin die Schritte lenken? Eine innere Glocke fing an zu schlagen, ganz leise erst die Glocke des Alarms vor der Panik. Bald würden die Araber ihre Gemüsekisten aufbauen und die Ladentüren öffnen Wohin wohin. Zu Hause erwartete mich nichts, abgesehen von der in den Möbeln und Dingen verkrochenen Schuld, starrenden Schuldigkeit. Würde ich telefonieren? Wen anrufen? Und die Glocke schepperte gefährlich schrill.
29. Juli 2001, Paris
Vor einem Jahr, glaube ich, war die Lektüre von Ulysses von Joyce eine Riesenlesearbeit; jetzt die Lektüre von L’Acacia von Claude Simon, auch nur in kleinen Portionen zu schaffen. Vordem hatte ich Le Tramway gelesen.
Simon arbeitet in einer Art von »lebenden Bildern«, er geht vom Bild, Erinnerungs- oder Vergegenwärtigungsbild aus und weitet das Bild oder besser, er reichert es an in vielerlei Nuancen von stofflichen Beschreibungen, Präzisierungen, Verfeinerungen, mit stofflich meine ich sowohl das Sensitive wie das Kognitive, es ist ein andauerndes Zusammenstücken in jeder Richtung, bis das Bild gesättigt ist und zu flimmern beginnt. Nun sind aber diese Großbilder nicht einfach Kapitel, sondern Stationen eines größeren Zusammenhangs, sagen wir einer Freske, und für den Leser heißt das, daß ihm durch seine eigene Sättigung mit »Information« oder »Material« die Vorstellung eines Epos zu dämmern beginnt, ich sage dämmern, weil es sich um ein aus Schattenzonen steigendes Ahnen und dann um ein mähliches Gestaltannehmen in seiner Vorstellung handelt, wobei nichts feststeht, nichts erklärt und nichts beurteilt wird, alles bleibt in einem neutralen Vorüberziehen belassen. Und hinterher oder besser mit fortschreitender Lektüre fühlt der Leser, daß er hineingezogen worden ist, ohne sich mit einer Person zu identifizieren, hineingezogen in den Bilderstrom, hineingezogen in eine sich zusammenbrauende Schlacht, in welcher Schicksalsmächte walten. Er kann das Gelesene nirgendhin wegstecken, doch hat er Teil an ihm, das Geschehen hat ihn auf seine Flügel genommen und dahingetragen.
Es ist im übrigen keine Schwarzmalerei, wenn auch ein düsterlicher Ton vorherrscht, doch brechen aus diesem Grundton vielerlei Farberheiterungen hervor. Die Sprachmaschine mit den endlosen verschachtelten und verklammerten Perioden mag manieristisch wirken, doch gehört die Manier zu der vom Autor geleisteten, immer weiter gehenden
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