Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Person, Präsens oder Vergangenheit, es geht um die Erzählperspektive in einem zutiefst notwendigen Sinne. Wenn ich in der Ich-Form schreibe, muß ich wissen, wer dieses Ich ist. Ist es der Schriftsteller oder ein angenommenes (delegiertes) Ich, und geht es um Erinnerung, Rekonstruktion, Rapport, Schwindel, theatralische Inszenierung etc.? Aus welcher Distanz wird gehandelt? Ich konnte ja, nachdem ich den Schriftsteller in Hund hinter mir gelassen und mehr oder weniger zum Verschwinden gebracht hatte (und dies wohl mit Gründen), jetzt nicht plötzlich wieder in die alte Rolle zurückfallen, sagen wir, wie im Jahr der Liebe . Die Erzählperspektive oder -rolle bestimmen den Ton und mit dem angeschlagenen Ton die Stoßrichtung des Erzählens, das Wie des Erzählens und damit das spezifische Was, den Faden oder Hakenschlag, im Grunde den Stil. Nun, dieses Problem habe ich, wie ich hoffe oder zu hoffen mir einbilde, seit kürzestem geklärt. Und nun läge das Stoff-Feld zur gezielten Beackerung offen vor mir.
Ich werde nächste Woche in diesem Sinne definitiv beginnen. Vordem muß ich noch einen Text für eine französische Zeitschrift möglichst hinknallen. Und am Gründonnerstag fliege ich für drei Tage nach Athen zu meinem ältesten Freund aus Schulbänkleintagen, unserem ehemaligen Botschafter Alfred Hohl, der seinen letzten Posten (nach Moskau, Deutschland, Belgrad …) in Griechenland hatte und dort geblieben ist. Sehr herzlich
6. April 2001, Paris
Der Psychiater meinte in bezug auf meine alljährliche Sommerfinsternis oder -flaute, Depressionen tauchten in der Regel saisongebündelt auf oder eben zyklisch. Wir sprachen über die Motivation zu einer Therapie. Ich bemerkte, ich sähe mich nicht dans une détresse, was er gleich bestätigte, gab mir aber zu bedenken, daß eine Arbeit insofern sinnvoll oder angezeigt wäre oder als angezeigt betrachtet werden könnte, als er in meinem Falle schon von einer souffrance, einem Leiden sprechen könne, das sei, sagte er auf meine Verwunderung hin, ohne Zweifel der Fall. Ich hätte dieses Leiden durch mein Schreiben einigermaßen im Griff. Wann begann das Schreiben, mit sechzehn etwa? Nun, seitdem balancieren Sie es gegensteuernd aus durch die literarische Arbeit. Dann fühlte er in bezug auf meinen Haß auf alle Sommervergnügen nach, ob viel Aggression im Spiel sei. Ich antwortete: Aggression ja, aber auch Neid, natürlich. Ich bin ausgeschlossen. Exklusion und Einsamkeit, unfähig zu solchem Genießen wie Sonnenbaden, Sonnenfreuden, Caféhausterrasse, Strandvergnügen und was der Freuden der Mediokrität mehr sind. Er vermutet, daß meine Unfähigkeit zu kollektivem Partizipieren mit dem Körperlichen zu tun haben könnte. Im Sommer ist ja die Entblößung viel freizügiger als in kühleren Jahreszeiten und insofern demonstrativer, eine allgemeine Lässigkeit, meint er wohl, ein Sich-gehen-Lassen, Abbau der Selbstkontrolle? Nun, meint er, ich müsse mir darüber klar sein, daß eine Therapie oder Analyse eine Unternehmung von langer Dauer und entsprechend kostspielig sein würde. Ich bin verblüfft (mich als Leidenden deklariert zu sehen?), dabei weiß ich ja seit längstem, daß ich mit dem hochnotwendigen Schreiben das Zweitleben, die Umerfindung praktiziere, das andauernde Mich-neu-Zusammensetzen aus Gleichgewichtsgründen, um meine Not auszugleichen, als Prothese? Mir widerlich, das literarische Phänomen der Selbsterfindung oder besser Selbsterschaffung als Notlösungsprozeß und -praxis ansehen zu müssen. Was schließt mich aus und in die Einsamkeit ein und befiehlt mir, mich unablässig umzufunktionieren, damit etwas stehe, auf dem ich stehen kann? Oder mache ich aus einem persönlichen Erbübel einer spezifischen Lebensunfähigkeit eine humane Literatur von allgemeiner Bedeutung? Ecce homo, Menschenauslotung, Forschung. Kommt nicht alles Schöpferische aus einem Defekt? Ich sehe meine lebenslange Bedrohung und von daher die Anstrengung, den Kampf, die Selbstmobilmachung (gegen Lethargie und Melancholie und Depression) in anderem Licht. Ich sehe mich in Valentin verdoppelt und verdoppelt in meiner Schwester und ermesse den Grad der Zumutung für meine Nächsten.
Wir kommen überein, erst einmal eine Paar-Therapie ins Auge zu fassen.
Ob das Freilegen der Gründe/Verletzung, die zu Isolation, Einsamkeit und periodischer Selbstüberhebung und Hagiographie führen, einen Befreiungseffekt erzielen könnten?
Ich schritt nach der Besprechung ziemlich
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