Urlaub fuer rote Engel
Kein Vergleich mit der Mitte
und dem Norden. Nur Hunde samt Herrchen gibt es hier genauso viel, wenn nicht noch mehr als im Norden. Ich frage einen älteren
Mann mit Pudel, ob es nicht an der Zeit wäre, die Friedrichstraße auch in Kreuzberg umzukrempeln.
Er schaut mich empört an. Weshalb umkrempeln? 40 Jahre sei es gut gewesen, und sie hätten nicht 40 Jahre Misswirtschaft hinter
sich wie die im Osten. Ich sage, dass es wirtschaftlich vorteilhaft wäre, wenn sich auch hier Banken, Luxuskaufhäuser und
Bürocenter ansiedeln könnten. Er greift sich an den Kopf. »Vorteilhaft? Diese Riesenklötze? Vorteilhaft, für wen denn?« Ob
ich in der Mitte der Friedrichstraße auch nur einen einzigen Menschen gesehen hätte, der dort mit seinem Hund Gassi geht.
»Gibt es zwischen den Neubauten der berühmten Architekten überhaupt Bäume, an die ein Hund pinkeln kann?«
»Ich weiß nicht«, sage ich, »ob Hundepinkelbäume eingeplant sind.«
»Na also«, erwidert der Mann triumphierend.
Der sterbende Schwan in der Elsteraue
Das Schloss, aus roten Klinkersteinen gemauert und mit grauen Putzbändern geschmückt, steht zu beiden Seiten der Weißen Elster
in Leipzig-Plagwitz und wird begrenzt vom Karl-Heine-Kanal, der eigentlich schon vor 100 Jahren Plagwitz mit Hamburg verbinden
sollte, es aber immer noch nicht tut. Efeu rankt an den Mauern, Moos bedeckt die wassernahen Putzbänder. Die vier- und fünfgeschossigen
Gebäude sind mit kunstvoll geschmiedeten Mauerankern und Türklinken verziert. Und mit Kuppel und Türmchen, auf denen wie in
Florenz Hunderte von Tauben sitzen. An der etwa 300 Meter langen Fassade bröckelt der frühere Name des Schlosses: »VEB Leipziger
Wollgarnfabrik« (von 1887 bis 1952: »Sächsische Wollgarnfabrik Tittel & Krüger-AG« und nach 1967: »VEB Buntgarnwerke Leipzig«).
Daneben, in Stein gehauen, das historische Firmenwappen: ein Schwan im Dreieck. Ich erinnere mich, dass meine Mutter nach
dem Krieg eine Docke dieser Schwanenwolle erhamstert und mir warme Socken davon gestrickt hatte.
Damals war das Fabrikschloss noch nicht verwunschen. Aber inzwischen sind die vielen hundert, paarweise durch neobarocke Wimpernbogen
verbundenen Fensteraugen der Wollgarnfabrik grau und erblindet. Manche eingeschlagen, andere mit Augenklappen aus Pappe oder
Plaste verdeckt, und aus einigen ragen dicke kurze Rohre, Saugrüsseln ähnlich. Wie bei Insekten, die sie vor dem Präparieren
nicht mehr einziehen konnten.
Neben dem weit geöffneten eisernen Eingangstorsteht das verschlossene Pförtnerhaus. Ohne Pförtner. Nur Schilder informieren und verbieten: »Feuerlöscher außer Betrieb!«
– »Schmidt Immobilien GmbH« – »Beim Schleifen Schutzbrille tragen!« – »BUGA Partners Verwaltungs GmbH« – »Fegt Aschespuren,
Sand und Dreck des vergangenen Winters weg!« – »Privatgelände! Betreten verboten!« Mit Kreide an den Türen: »Achtung! Neue
Schlüssel!« Und immer wieder: »Rückwärtsfahren ohne Einweiser streng verboten!«
Es regnet. Ich laufe die gespenstisch menschenleeren Straßen des Fabrikschlosses dicht an den Wänden entlang, aber die vorstehenden
Dachrinnen beschirmen mich nicht. Löchrig wie Siebe oder verbogen wie modernistische Kunstgebilde, lassen sie den Regen als
Duschbad oder Sturzbach die wunden Wände hinunterlaufen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Nonnenstraße sind die roten
Klinker, die grauen Putzbänder, die Fenster und Dachrinnen schon repariert oder übertüncht. Und an der erneuerten Fassade
prangt das frisch gemalte Wappen. Nun kein Schwan mehr, sondern eine Elster. Ich vermute »Elsterwolle« statt »Schwanenwolle«
und befrage einen alten Mann, der in Gummistiefeln und Regenmantel einen großen Korb Boskoopäpfel aus seinem Garten nach Hause
schleppt. Er lacht bitterböse. »Über 100 Jahre wurden an der Nonnenstraße Garne und Wolle gesponnen, zu DDR-Zeiten produzierten
fast 2.000 Beschäftigte täglich über 10 Tonnen. Doch 1992 ist der Schwan samt Wolle für immer den Bach hinuntergeschwommen.
Und der Schwanennachfolger, die Elster, ist ein diebischer, fressgieriger Vogel, das Symbol für den …« – er buchstabiert die
neue Schrift an der Fassade –»Elster Business Park.« Eingenistet hätte sich dort unter anderem das Leipziger Finanzamt.
Ich erkundige mich, wo ich Leute finde, die in den Buntgarnwerken, dem Fabrikschloss der Gründerzeit (Experten bezeichnen
es als eines der größten deutschen
Weitere Kostenlose Bücher