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Urlaub fuer rote Engel

Urlaub fuer rote Engel

Titel: Urlaub fuer rote Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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Industriedenkmäler), gearbeitet haben.
    »Vielleicht in den Kneipen, in denen sie früher bei Bier und Bockwurst gesessen haben, zum Beispiel im ›Fortschritt‹ in der
     Karl-Heine-Straße.«
    »Fortschritt« klingt gut, denke ich und finde zuerst das Straßennamenschild: »Karl Heine (1819–1888)«. Der Rechtsanwalt Dr.
     Ernst Karl Erdmann Heine, 1819 in Leipzig geboren und 1888 ebenfalls in Leipzig gestorben, hatte um 1850 bei der Stadt die
     Genehmigung zum Bau einer »Manufactur und Fabrique« beantragt. Doch die Stadtväter befürchteten Schmutz und Lärm für die Messegäste
     und verweigerten das Papierchen. Da kaufte Heine 1854 außerhalb von Leipzig im Dorf Plagwitz mit seinen damals nicht einmal
     500 Einwohnern reichlich Grund und Boden, ließ Feuchtwiesen trockenlegen, Brücken über die Elster bauen, errichtete eine Schmiede
     und eine Ziegelei, begann den unvollendeten Kanal zu graben und überredete 1863 den Patentbesitzer für die Produktion von
     Pflügen, den Unternehmer Rudolf Sack, in Plagwitz einen Betrieb zu eröffnen (später eine Weltfirma für landwirtschaftliche
     Geräte). 1869 übersiedelte Karl Ernst Mey, der zwei Jahre zuvor das amerikanische Patent für Papierkragen und -manschetten
     gekauft hatte, von Paris nach Plagwitz (als Firma »Mey & Edlich« um 1900 das weltgrößte Versandhaus). Und 1875 bauten »Tittel
     & Krüger« in der Nonnenstraße eine Dampffärberei fürWollgarn. Schließlich ließ Karl Heine den städtischen Wald, der Plagwitz noch von Leipzig trennte, in einer Nacht illegal
     abholzen. Er zahlte dafür 30 Taler Strafe an die Stadt, aber 1891, drei Jahre nach seinem Tod, wurde das Industrieviertel
     Plagwitz mit inzwischen fast 100 Fabriken, 6.000 Beschäftigten und 15.000 Einwohnern der Messestadt per Ratsbeschluss zugeschlagen.
     Dem Industriegründer Heine errichtete man 1896 ein lebensgroßes Denkmal. Leider aus Bronze. Zusammen mit Kirchenglocken wurde
     es im Zweiten Weltkrieg eingeschmolzen. Heute existieren nur noch der Sockel und das Namensschild der Straße, die ich vergeblich
     hin- und herlaufe, um den »Fortschritt« zu finden, jene Kneipe, in der seinerzeit die Arbeiter der Buntgarnwerke einkehrten.
    Der »Fortschritt«, erklärt ein Passant, sei nach der Wende geschlossen und statt seiner der Glücksspielsalon »silver time«
     eröffnet worden.
    Beim zweiten Versuch, das Innere des Fabrikschlosses aus Karl Heines Gründerzeit zu erkunden, habe ich Glück. Ich entdecke
     neben einer Laderampe ein unverschlossenes Tor, tappe durch den dunklen Gerümpelkeller, und da alle Betriebsgebäude – auch
     die am anderen Ufer der Elster gelegenen – durch Brücken oder Übergänge miteinander verbunden sind, kann ich eine gute Stunde
     treppauf, treppab durch fußballfeldgroße leere Hallen laufen. Hunderte schlanke achteckige Säulen stützen die Decken. Eine
     schöne schlichte Architektur. Leider nur ein Skelett. Werkstätten mit Waschpaste, vergessenen Brotbüchsen, verrosteten Schrauben
     und Kalenderblättern voller barbusiger Mädchen (die letztenvom Januar 1992) und Wagen mit leeren Garnhülsen erinnern an die Arbeit. Im Treppenhaus des Mittelbaus hängt ein Schaukasten
     mit alten Bekanntmachungen: »Gesamtbetriebsvereinbarung Abfindungen. Nach dem dritten Jahr Betriebszugehörigkeit jährlich
     1 Punkt. 1 Punkt = 200 DM. Geschäftsführer Schmidt. Leipzig, den 22. Juli 1991«.
    Der 57-jährige Hartmut Schmidt sitzt heute im Verwaltungsbau einige Türen weiter hinten, dort, wo am marmorgefliesten Aufgang
     ein runder Tisch und sechs Ledersessel für die Besucher stehen. Die Besucher wollen bei Hartmut Schmidt Wohnungen kaufen oder
     mieten. Der frühere Geschäftsführer ist Makler geworden. »Die Treuhand hatte mir und dem zweiten Geschäftsführer für die Unterstützung
     bei der Privatisierung einen Job im künftigen Betrieb versprochen.« Einen künftigen Betrieb gibt es nicht, nur die »BUGA Partners
     Verwaltungs GmbH«. Die hat den Betrieb mit insgesamt 100.000 Quadratmetern Grund und Boden gekauft und vermarktet ihn, das
     heißt, sie baut Wohnungen und Büroräume auf den Nebenflächen und will das denkmalgeschützte Fabrikschloss-Ensemble in Supermarkt,
     Hotel und Freizeitcenter verwandeln.
    Die ersten 144 neuen Wohnungen vermietet Herr Schmidt. Für ein langes Gespräch zur Geschichte der Buntgarnwerke, in denen
     der Textilingenieur über 30 Jahre gearbeitet hat, findet er keine Zeit. Nur ein paar karge Informationen über das Ende:

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