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Urlaub fuer rote Engel

Urlaub fuer rote Engel

Titel: Urlaub fuer rote Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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und
     einer erhängte sich. »Mich setzte man als Treuhänder ein. Und die Treuhand schärfte mir ein, dass es nicht im Sinne der Arbeiter
     ist, wenn ein Privatbetrieb Gewinn für die Kapitalisten erwirtschaftet. Im Klartext: Miese machen! Die runtergewirtschafteten
     Verlustbetriebe – Frau Breuel musste überhaupt nichts Neues erfinden – konnte man dann enteignen und in Volkseigentum umwandeln.«
     Das geschah im Oktober 1952. Zu der Zeit hatte Bernd Busch schon das Kulturhaus der Textilarbeiter gegründet und wurde dessen
     Leiter.
    Früher stand das Kulturhaus Mauer an Mauer mit dem Betrieb. Heute hat es sich wie ein abgedriftetes Rettungsbootan die 100 Meter entfernt. Dazwischen offenes Feld. Hier war nach der Wende die neugebaute Färberei als erster Teil der Buntgarnwerke
     abgerissen worden. Die Betriebsgeschichte endete, wie sie 1875 begonnen hatte: mit der Färberei. Damals hatten »Tittel & Krüger«
     eine Dampffärberei errichtet. Die Frauen wuschen die Wolle mit der Hand in der Elster. Wichtigstes Produkt, das die Firma
     reich machte: Tapisseriewaren. Bunte Stickereien auf grobem Gewebe für Kissen-, Tisch- und Stuhlzierrat für die gute Stube.
     Die Firma vergrößerte sich. Von 1879 bis 1923 entstand das heutige Industriedenkmal mit der historischen Backsteinarchitektur,
     der neobarocken Kolossalarchitektur der Kaiserzeit und der modernen Stahlbetonarchitektur des Jugendstils. Auch die Anzahl
     der Beschäftigten und die Gewinne vergrößerten sich. 1887 noch 542 Beschäftigte, 1911 schon 2.   000.   1901 rund 12 Millionen Mark Umsatz, 1938 über 25 Millionen RM, davon 1,4 Millionen RM Reingewinn. Gute Geschäfte mit Uniformgarnen.
    Nach dem Krieg verschwanden Aktien im Wert von einer halben Million und das geschützte Schwanenmarkenzeichen nach Hamburg-Bahrenfeld
     in die Sternwollspinnerei. Die Plagwitzer produzierten ohne Signet und versuchten, aus Zellulose und russischen Baumwollabfällen
     Strickgarne zu spinnen.
    Damals hat Ruth Falke schon in der Wollgarnfabrik gearbeitet. Zu Hause sechs Geschwister, vier noch schulpflichtig. Mit 15
     schickte die Mutter die schmächtige Ruth in die Garnspinnerei. Ihr erster Arbeitstag: der 11. November 1946. »Wolle konnte
     ich keine klauen, mein Onkel war im Betriebsrat. Aber die Fabrik hat unsererFamilie – der Vater starb bald nach dem Kriegsende – das Überleben erleichtert.«
    Am 1. Oktober 1990, nach 44 Arbeitsjahren und zwei Tage vor der Wiedervereinigung, wurde die Meisterin Ruth Falke in den Vorruhestand
     geschickt. »Für mich wie eine Entlassung. Die Kolleginnen schenkten mir eine Palme und eine Keramikschale zum Abschied; am
     Ende der Spätschicht war’s, vor der Nachtschicht.« Sie kramt die Schale aus dem Schrank und Mappen mit Zeitungsartikeln und
     Fotos. Sie als 21-Jährige in festlich weißer Bluse. »Erste Aktivistin 1952« und »Die erste Spinnerin, die drei Seiten bedient,
     dreimal 204 Spindeln«.
    Vom Stubenfenster aus sieht sie die Fensteraugen in der Ringspinnerei. »Stundenlang habe ich nach der Entlassung hier gesessen
     und hinübergeschaut. An alles dachten wir bei den Montagsdemos, aber niemand konnte sich vorstellen, dass wir irgendwann aufhören
     würden, Garn zu spinnen. Jahrzehntelang Sonderschichten, Sonnabendarbeit und ausländische Arbeiter. Zuerst die Polinnen, dann
     die Kubanerinnen, Moçambiquanerinnen und zuletzt die Vietnamesinnen. Die arbeiteten noch, als ich schon am Fenster saß. Dann
     gingen auch die zum letzten Mal durchs Tor. Und als die Maschinen weggefahren wurden, habe ich schon nicht mehr zuschauen
     können.«
    Seitdem war sie nur noch einmal in den leeren Hallen. Ich bitte sie, mir das verwunschene Fabrikschloss trotzdem zu zeigen.
     Sie überlegt sehr lange. Dann kämmt sie sich sorgfältig die Haare, cremt das Gesicht ein und schminkt sich die Lippen. Sie
     will durch die gewohnte Eingangstür ins Fabrikgebäude hineingehen, doch die ist verschlossen. Ich zeige ihr das offene Tor
     neben derLaderampe. Über das Gerümpel hinauf zur ersten Halle. »Hier war die Packerei. Schufterei, aber nicht so laut wie bei uns,
     die konnten sich noch unterhalten.« Bierbüchsen zuhauf, Wodkapreise an der Wand. »Nächtelang dröhnte die Disko in der leeren
     Fabrik.« Wir steigen Treppen mit vielfach übermalten grün-grau-blauen Ölsockeln zur Zwirnerei hinauf. Dort liegen, wie auf
     einer Müllhalde, die Reste von Ausstellungen, Performances und Sessions, die in den Hallen stattfanden, als die

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