Urlaub fuer rote Engel
»Die
Fabrik war für heutige Verhältnisse zu groß, und einige Maschinen waren zu alt. Aber zusammen mit einem Berater aus dem Münsteraner
Raum hatten wir ein wirtschaftliches Konzept erarbeitet.Doch die Treuhand lehnte ab. Sie konnte nicht die Produktion – den westdeutschen Textilbetrieben steht das Wasser selber bis
zum Halse –, sondern nur die Immobilie und diverse Grundstücke verkaufen. An unseren Spinnmaschinen arbeiten jetzt Frauen
in Tschechien, Polen, China …«
Ein neuer Wohnungsinteressent kommt. 1.200 DM Miete. Tendenz steigend. »Ist natürlich nichts für Arbeitslose aus den Buntgarnwerken.«
Hartmut Schmidt schickt mich zu Bernd Busch, Ruth Falke und Karl Heinz Mißler, die hätten lange im Betrieb gearbeitet. Und
im Büro des neuen Geschäftsführers müssten noch Brigadetagebücher und die Chronik liegen. Der neue Geschäftsführer ist 32,
studierter Betriebswirt, freundlich und hilfsbereit, aber aus Hamburg und weiß deshalb nichts über Betriebschroniken und Brigadetagebücher.
Er sucht ziellos in den Ablageschränken. Ich sage ihm, dass er nach roten Schmuckmappen schauen muss …
Aus dem Brigadetagebuch der Spinnerei: »Große Freude herrscht bei all unseren Kolleginnen, die ab 1. Mai 1977 in den Genuss
der sozialpolitischen Maßnahmen kommen. Für alle Kolleginnen mit zwei Kindern nur noch 40 Arbeitsstunden. Alleinstehende über
40 Jahre erhalten einen Haushaltstag. Wir werden diese Vergünstigungen mit dem Bestreben um eine höchstmögliche Planerfüllung
beantworten.« – »Unser Kampfprogramm: Energieeinsparung durch Abschalten der Absaugmotoren während der Pause und Abschalten
der Beleuchtung über nicht genutzten Flächen …« – »Am 23. März 1982 fand im Klubhaus die musikalisch-literarische Veranstaltungunter dem Motto ›Ein Nachmittag bei Goethe‹ mit Nationalpreisträger Günter Grabbert statt. In netter Form wurde uns Goethe
nähergebracht …«
Über die bekannte Leipziger Schriftstellerin Gerti Tetzner lese ich im Brigadetagebuch nichts. Sie hatte 1977 fast ein halbes
Jahr in der Ringspinnerei gearbeitet. Allerdings nicht, um »ihre Verbindung zur Arbeiterklasse zu vertiefen«, und auch nicht,
um einen sozialistischen Produktionsroman zu schreiben, sondern um Geld zu verdienen. Ein Reportagebuch, in dem sie an der
kooperativen Entwicklung der DDR-Landwirtschaft gezweifelt hatte, war nicht erschienen, außerdem hatte sie den Aufruf gegen
Biermanns Ausbürgerung unterschrieben. »In unserem Haus wohnt eine Polin, die hat mich dann in die Spinnerei mitgenommen.
Drei Schichten. Nach Mitternacht war’s am schlimmsten. Zuerst musste ich Garn aufstecken und die Maschinen putzen. Es war
Sommer, die Klimaanlage gerade rausgerissen und verscherbelt. Mittags über 40 Grad. Das synthetische Garn verformte sich,
riss. Und außer einer halben Stunde Pause immer auf den Beinen. Nach Feierabend spürte ich meine Beine nicht mehr. Ich war
damals schon über 40. Gewöhnlich standen die Frauen über 40 nicht mehr an der Maschine, sondern sortierten im Lager die Baumwolle.«
Nach 5 Monaten hatten Leipziger Maler und Schriftsteller so viel Geld gesammelt, dass Gerti Tetzner auch ohne den Spinnereilohn
wieder leben und schreiben konnte. Sie schaut nicht im Zorn zurück. »Ich habe mir damals bewiesen, dass ich jederzeit bei
null anfangen kann, nicht abhängig bin. Außerdem lernte ich lebenstüchtige, bauernschlaue Leute kennen …«
Vielleicht auch Bernd Busch, der 1924 in Plagwitz am Kanal geboren wurde und heute immer noch in einer der Werkswohnungen
gegenüber der Spinnerei zu Hause ist. Als 8-Jähriger hatte er 1932 zusammen mit seinem Vater vor dem »Tittel & Krüger«-Betriebstor
gestanden. Die Textilarbeiter streikten um einige Pfennige Lohnerhöhung, und die Unternehmer setzten Streikbrecher ein. »Wir
verteilten Flugblätter, beschimpften und bespuckten diese Verräter … 1957, ich war inzwischen in der Personalabteilung des
volkseigenen Betriebes, gratulierte ich einigen von ihnen mit Blumen und Urkunden zu ihrem 25-jährigen Betriebsjubiläum.«
1948 kam Bernd Busch zu »Tittel & Krüger«. Damals wurde auf dem Leipziger Schwarzmarkt mit Schwanenwolle en gros gehandelt.
Die Landesregierung schickte eine Kontrollkommission. Sie fand nichts. Da wurde eine zweite geschickt, 20 »Experten«. Und
die entlarvte die alten Chefs als »Wirtschaftsspione«. Vier wurden verhaftet, zwei davon verurteilt, einer freigelassen,
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