Urlaub fuer rote Engel
Gebäude der Erfurter Innenstadt eingemessen worden. Dabei galt die alte preußische Regel: Das Fundament,
der Sockel des Hauses, darf sich auf einem Fremdgrundstück, beispielsweise auf der städtischen Straße, befinden. Die Grenze
darüber aber ist in jedem Fall das aufgehende Mauerwerk. Die Fachwerkwände waren oft sehr kältedurchlässig, und die Hausbesitzer
verkleideten sie später mit einer 8 Zentimeter dicken Wärmedämmung. »Will ein Hauseigentümer heute sein inzwischen wärmegedämmtes
Haus verkaufen oder der Bank zur Beleihung für einen Kredit überlassen, muss er es neu einmessen lassen. Aber nun steht es
mit dem aufgehenden Mauerwerk 8 Zentimeter außerhalb seines Grundstückes. Es wäre also nicht mehr zu verkaufen oder zu beleihen.
Nach dem noch geltenden preußischen Recht sind die acht Zentimeter Unrecht. Aber weil man heute noch keine neue Ordnung erlassen
hat, sind diese 8 Zentimeter ein rechtsfreier Raum. Und den nutzen nicht nur Rechtsanwälte zum Geldverdienen.«
Ein alter Mann gräbt am Ende der langen roten Ziegelmauer die steinkohlenschwarze Erde des Gartens um. Er fragt die Vermesser,
an welcher Stelle der Nachbar sein Haus bauen wird. Das wissen sie nicht. »Wir zeichnennur das auf, was jetzt ist, nicht das, was sein wird.« Da nickt der Alte und gräbt weiter.
»Wenn die Vermesser kommen«, sagt Wolfgang Barthel, »fragen viele ängstlich: ›Soll hier eine Straße, eine Eisenbahnstrecke
gebaut oder ein Windrad errichtet werden?‹ Vermesser sind – da können die Pläne monatelang öffentlich in der Verwaltung ausgelegen
haben – die ersten ansprechbaren oder zu beschimpfenden Vorboten der geplanten Veränderung und manchmal die unschuldigen Opfer
des verspäteten Bürgerzorns.«
Der alte Mann stellt den Spaten zur Seite und sagt, dass er genau weiß, wo die Mauer auf dem Grundstück des Schwiegervaters,
das nun ihm und seiner Frau gehört, verläuft. »Bei den Feldsteinen stand früher die Scheune, also das ist unsere Mauer. Davor
befand sich ein Wohnhaus. Da verläuft die Mauer auf Nachbars Grundstück. Müssen Sie gar nicht erst messen.«
Er ist nach dem Krieg als Umsiedler aus Küstrin nach Waltersleben gekommen und hat die Tochter des Bauern geheiratet. Der
Bauer hatte bei der Bodenreform einige Hektar Acker erhalten. »Die habe ich dann nach der Wende einfach weggegeben. Was sollte
ich damit? Was wussten wir vom Wert des Bodens? Wahrscheinlich hätte ich das Land, es ist fruchtbare Erde, heute mit gutem
Gewinn verpachten könnten.«
Er lacht. Schließlich sei alles vergänglich. Niemand könnte zum Schluss etwas mitnehmen. Danach erzählt er uns, was auf den
alten Karten von Wolfgang Barthel zwar zu sehen ist, aber was wir dennoch nicht wissen können: »Über dem alten Keller stand
bis kurz vor dem Ende des Krieges, wie in Ihren Karten eingezeichnet, einWohnhaus. Doch weil die Amerikaner wahrscheinlich keine ordentlich vermessenen Koordinaten von dieser Gegend besaßen« – der
alte Mann grinst die Geodäten an –, »trafen sie nicht die Deutschen, die den Steigerwald verteidigten, sondern beschossen
das Vorfeld. Granaten zerstörten hier auch nicht, wie es militärisch sinnvoll gewesen wäre, die Scheune, sondern das Wohnhaus.
Doch was die Amerikaner nicht geschafft hatten, erledigte 27 Jahre später die LPG. Die Genossenschaftsbauern lagerten zu feuchten
Hafer. Als der sich auf 80 Grad erhitzte, krümmten sich die Giebelwände, und die Scheune wurde abgerissen.«
Er gräbt wieder zwei Stiche, dann stützt er sich auf den Spaten und sagt: »Ihr Vermesser besitzt die Daten, aber ich kenne
auch die Lebensgeschichten dazu.«
Barthel nickt und philosophiert: »Jedes Vermessen der Welt ist immer auch ein Vermessen des Lebens.«
Das Leben eines Thüringer Vermessers sollte, meint Barthel, von drei wichtigen Koordinaten aus vermessen werden: Vor der Wende.
Zur Zeit der Wende. Und nach der Wende.
Vor der Wende:
Wolfgang Barthel wurde 69 Jahre nach Ernst Thälmann wie dieser am 16. April geboren. Sein Vater war Journalist, die Mutter
Sekretärin. Als der Junge 15 war, starb der Vater. Seine Mutter musste ihn und die 18-jährige Schwester allein durchbringen.
An dieser Stelle muss ich die »Vor der Wende«-Koordinate schon einmal verlassen und zur »Nach der Wende«-Koordinate springen,
denn Wolfgang Barthel sagt: »Ich habe drei Kinder. Der Kleinste geht jetzt in die 10. Klasse, die Tochter studiert Medizin,
und der
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