Urlaub fuer rote Engel
andere Sohnhat das Lehrer-Staatsexamen für Staat und Recht abgelegt. Bei der Abschlussfeier umarmte er uns und sagte: ›Ihr habt für mein
Studium in 5 Jahren rund 46.000 Euro abdrücken müssen.‹ Wer schafft das heute? 46.000 Euro. Selbst ein Vermessungstechniker,
der bei mir arbeitet, kann das kaum aufbringen. Meine alleinstehende Mutter verdiente damals 520 DDR-Mark. Trotzdem haben
wir beide, meine Schwester Pädagogik und ich Vermessung, studieren können. Wir sollten dankbar sein.«
Zurück zur alten Koordinate.
Von der 1. bis zur 6. Klasse gehörte der Junge zu den talentiertesten Eiskunst-Paarläufern. Weil es aber in Erfurt keine Eishalle
gab, hätte er für die Sportlerkarriere nach Berlin oder Karl-Marx-Stadt gehen müssen. Das wollte er nicht. Später schwankte
er zwischen drei Berufswünschen: Kellner mit Abitur, Wasserbauer mit Abitur oder Vermesser mit Abitur. Er entschied sich für
Geodäsie und träumte davon, als Truppführer mit seinen Vermessern durch die Natur laufen zu können.
Seine ersten praktischen Erfahrungen sammelte er in einem kleinen Dorf bei Cottbus. Sie kartierten dort die Leitungen für,
wie die Bauern sagten, »Wasser aus der Wand«. In diesem Dorf lernte er den Reichtum von Bescheidenheit kennen. »Die Bauern,
bei denen immer zwei von uns untergebracht waren, schliefen wie wir unter einfachen Wolldecken. Es gab Wasser aus dem Brunnen,
Ofenheizung, Brot, Margarine, Milch und das Gemüse aus dem eigenen Garten.«
Zum ersten Mal genoss er die Privilegien eines Vermessers beim anschließenden Wehrdienst in der NVA. Statt Mot.-Schütze oder
Panzerfahrer wurde er Soldatin einer Vermessungseinheit. Allerdings vermaß er dort keine Wälder und Felder, sondern erstellte topographische Karten von
Flughorsten, Munitionsbunkern, Truppenübungsplätzen und der Grenze. Er kartierte auch hinter dem Grenzzaun, aber noch auf
DDR-Gebiet. »Feindwärts« hieß das. Feindwärts mit einem Vermessungsoffizier und einem Bewacher. Die beiden waren nur mit Pistolen
bewaffnet. Er, der Vermessungssoldat, mit einer voll aufmunitionierten MPi Kalaschnikow.
Danach studierte er in Dresden Geodäsie. Nach dem Abschluss hoffte er, sich seinen Wunsch, als Truppführer durch die Natur
zu streifen, erfüllen zu können. Aber er wurde im Erfurter Kombinat für Geodäsie und Kartographie im Innendienst eingesetzt
und musste Vermessungsaufträge entgegennehmen, Verträge abschließen, den Ablauf der Arbeit organisieren und – was ihm nach
der Wende sehr nützlich war – die Effektivität, die Wirtschaftlichkeit der Vermessung planen. Schließlich wurde er Bereichsleiter
des Kombinates in Gera. Messen konnte er nur noch nach Feierabend. Und 1986 kam das endgültige Aus seines Traumes vom »Truppführer
in der Natur«. Er wurde Direktor der Betriebsberufsschule in Gotha, in der Vermessungstechniker ausgebildet wurden.
Die Zeit der Wende
hatte für ihn zwei wichtige persönliche Vermessungspunkte.
Im Februar 1990, er war noch Direktor und wie alle Lehrkräfte wegen der Koordinaten und der Instrumente »Geheimnisträger«,
gab es an der Betriebsberufsschule einen »Tag der offenen Tür«! Und die Kollegen aus dem Westen Deutschlands, vor denen 40
Jahre lang Koordinatenund Instrumente streng geheimgehalten werden sollten, kamen, schauten und staunten, denn die Vermessungstechnik war in der
DDR nicht stiefmütterlich behandelt worden. »Als sie mit dem Staunen fertig waren, sagten die Wessis uns: ›Ihr müsst euch
jetzt schnell entscheiden, wohin ihr euer Lebensschiff steuern werdet: in die staatliche Verwaltung oder in die freie Wirtschaft.‹
Wir Vermesser hatten damals das Glück, für uns selbst entscheiden zu können, wohin und was wir wollten. Für viele DDR-Bürger,
ob in den Kaligruben, den Großbetrieben oder der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, entschieden damals andere.
Ob die Betroffenen es wollten oder nicht.«
Der zweite wichtige Barthel’sche Vermessungspunkt der Wendezeit: Er hatte an seiner Betriebsberufsschule auch Vietnamesen
und Laoten ausgebildet. Und weil es damals Angebote gab, als Lehrer im Ausland zu arbeiten, beschloss er, ab 1. Februar 1990
in Berlin-Wandlitz an einem Intensivkurs für Englisch teilzunehmen. Was er nicht wusste: Dieser Lehrgang war schon ein Vorläufer
der vielen folgenden Kurse, mit denen die staatlichen Organe, die Ministerien und Verbände der DDR ihre nicht mehr verwendbaren
Leitungskader
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