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Utopolis

Utopolis

Titel: Utopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Illig
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an Fuß- und Handgelenken, um die Dämonen im Turm zu erschrecken.
    So umkreisten sie stundenlang das Gebäude, bis sie im Krampf der Verzückung umfielen und wie gelähmt liegen blieben. Dann sprangen andere in die Bresche.
    Einen aus unserem Trupp packte es plötzlich. Er schlug die Fäuste vor die Brust, zerfetzte sein Hemd, stürzte dem Zug nach, riß einem, der schon taumelte, das Marterwerkzeug aus der Hand und begann rasend auf seinen bloßen Körper loszuschlagen.
    Dieses Beispiel feuerte wiederum die anderen Flagellanten an. Sie verdoppelten die Wut der Kasteiung und ihr Geschrei.
    Meine Kollegen Taschendiebe bekreuzigten sich fromm.
    Da scheuchte uns der laute Knall einer Explosion aus den mehr oder weniger kirchenfreundlichen Betrachtungen.
    Der Boden zitterte unter unseren Füßen. Zwischen Bäumen wallte eine schwarze Wolke auf.
    Schon Jolls Geschwader? Das konnte nicht sein; denn vorher sollte ja der geheimnisvolle Rettungsversuch unternommen werden. Auch zeigten sich keine Flugschiffe am Himmel.
    Wir eilten auf den dunklen Rauchschwaden zu, drängten uns durch Arbeitermassen, die mit Schaufeln und Brechstangen ausgerüstet waren. Da lag vor uns ein tiefer Erdkrater, aus dem noch gelbe Dämpfe schwelten. Entwurzelte und zerrissene Bäume säumten seinen Rand.
    Trillerpfeifen schrillten. Die Arbeiter kletterten über die Erdtrümmer ins Innere des Sprengloches, um es zu erweitern und zu vertiefen. Motorbagger schoben sich heran.
    Im Hintergrund blitzten Bajonette. Einige Maschinengewehrmündungen funkelten auf hohen Gestellen über den Köpfen der schaufelnden Kolonnen.
    So machte man Lust zur Arbeit im neuen Reich der Geldkönige. Aufseher brüllten, aus ihren brutalen Schnauzen geiferte Hohn: »Fuffzehn Stunden Dreck schippen, bis ihr Lunge kotzt, das is mal was anderes, ne kleine Abwechslung, was?« Und sie fuhren mit Knüppeln und Peitschen unter die Sklaven, wenn sie sich einbildeten, daß einer nachließ.
    Ein älterer Mann brach plötzlich neben seiner Kipplore zusammen, seine Hände krallten in die Erde, als wollte er sich in sie verwühlen. Blut strömte aus seinem Mund. Seine Kameraden wollten ihm beispringen, da knallte der Wächter zwischen sie: »Hände weg, Gesindel«, schrie er, »den hat der Pfaffe kostenlos in die Versicherungskasse zur himmlischen Seligkeit aufgenommen …« und wieherte viehisch über diesen Witz.
    Wir pirschten uns an zwei Leute heran, die einen Korb mit Steinbrocken ausschütteten.
    »Was soll das werden?«
    Die beiden blieben gebückt, als arbeiteten sie, und antworteten leise von unten herauf: »Sie wollen sich an den Turm heranbohren. Soll morgen gesprengt werden …«
    Unser frommer Anführer nickte beifällig: »Recht so! Treibt nur die rote Sündenbrut gehörig aus!«
    Die beiden Korbträger zuckten nur mit den Schultern. Sie waren offensichtlich anderer Meinung, hoben an und trotteten wieder dem Krater zu.
    Das gab mir zu denken. Der Rausch war verflogen. Vielleicht begannen die Unglücklichen sich zu erinnern.
    Die Vagabunden wollten weiter. Ich verabschiedete mich von ihnen. Hätte eine andere »Gelegenheit« ausgekundet. Käme später nach.
    Ich griff eine Schaufel auf und mischte mich unter die Arbeitenden. Hielt mich zu den beiden Trägern. Ohne die Lippen zu bewegen, flüsterte ich auf sie ein: »Kommt ihr wieder zu Verstand, Genossen? – Wißt ihr, was vorgeht? – Habt ihr euch organisiert? – Wer leitet die Aktion?«
    Sie antworteten lange nicht. Ich hörte, wie der eine dem anderen zuraunte: »Vorsicht! Spitzel!«
    Nicht lockerlassen. Weiter sprach ich auf sie ein. »Joll wird helfen – im letzten Augenblick –« munterte ich auf.
    »Kenne keinen Joll«, knurrte mein Nebenmann.
    Die Erinnerung war noch gestört. Aus der Not trieben sie – unabhängig von früheren Erfahrungen – aufs neue dem Sozialismus zu. Sollten sie den langenLeidensweg mit allen Wirrungen und Irrungen noch einmal gehen müssen? Dieser Gedanke war unerträglich. Überdies mußte sich in den nächsten Stunden unser Schicksal erfüllen. Spätestens am kommenden Tag. Das fühlte ich ganz deutlich.
    Ich gab keine Ruhe. Die Korbträger überzeugten sich endlich von meiner Redlichkeit.
    »Wohnblock 267, im Keller, wenn du was wissen willst …« flüsterte der Kamerad beim Bücken.
    Schon trillerten die Pfeifen. Wir sprangen aus dem Erdloch und rannten davon. Die zweite Explosion krachte. Steinhagel schwirrte. Der Genosse hinter mir schrie auf … stürzte. Ein faustgroßer

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