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Gesicht entgegen. Hatte ich gestern so viel getrunken, dass ich mich nicht mehr erinnern konnte? Ich fühlte mich eigentlich gut – keine Spur von Kopfschmerzen oder Kater. Verzweifelt versuchte ich, mich zu erinnern. Hatte Markus mich gestern abgeholt oder hatte ich bloß wild geträumt? Eigentlich war ich mir sicher, dass er mich abgeholt hatte. Wir waren doch zu diesem verstecktem Schloss gefahren …
Wurde ich verrückt? Um mich zu »erden«, beschloss ich, den Tag endlich wieder einmal im Garten zu verbringen. Herr Stegmaier würde bald erschöpft auf seiner Terrasse in Ruhestellung gehen. Dann würde ich freie Bahn haben. Mit einem Anflug schlechten Gewissens musste ich mir eingestehen, meine Pflanzen ganz schön vernachlässigt zu haben. Das Nötigste hatte ich meist vor dem Zubettgehen im Dunkeln gegossen. Die neue Dahlie Pink Giraffe, auf die ich so gespannt gewartet hatte, müsste inzwischen in voller Blüte stehen. Wie ich Dahlien liebe! Nicht nur wegen ihrer enormen Blütenfülle und der imposanten Vitalität, mit der sie jedes Jahr aus diesen mickrigen, trockenen Knollen brechen. Unprätentiös, mit einer Art naivem Stolz auf ihre prächtige Erscheinung. Eine Zeit lang begeisterte ich mich für dunkellaubige Sorten: Der Bishop of Llandaff mit seinem leuchtenden Rot sowie die gewöhnungsbedürftige Faszination mit ihrem ordinären Pink kündeten noch davon. Dies Frühjahr hatte ich meinen Schwerpunkt auf ausgefallenere Blütenformen gelegt. Und die Giraffe schien zwar nicht die schönste, aber dafür die interessanteste meiner Neupflanzungen zu sein. Ich freute mich darauf, sie heute alle zu inspizieren, festzubinden, anzuhäufeln …
Ich zog mich an und suchte im Kühlschrank nach etwas Essbarem für meinen knurrenden Magen. Er knurrte wie ein Dobermann. Wo hatte ich erst neulich so ein Vieh gehört? An einem Bissen Schinkenbrötchen kauend, holte ich die Zeitung aus dem Briefkasten. Bei einer Tasse Kaffee blätterte ich – wie immer – als Erstes den Lokalteil auf, obwohl sich einem hier meist ein langweiliges Konglomerat aus Generalversammlungen, Sportvereins-Meldungen und lokalen Kalamitäten bot. Normalerweise las ich hier etwas über Schnupfer- und Kaninchenzüchter-Vereine oder langweilige Gemeinderatssitzungen. Heute sprang mir allerdings sofort eine dicke Schlagzeile entgegen. Ich überflog den kurzen Bericht:
Zwei Tote bei Badeunfall
Einmal mehr scheint Leichtsinn die Ursache für den Ertrinkungstod zweier Männer im See gewesen zu sein. Jüngsten Ermittlungen zufolge befanden sich der 36 Jahre alte Künstler Markus P. und der 17-jährige Sebastian Z., Sohn eines in der Umgebung bekannten Kunstmäzens, in der vergangenen Nacht mit einem Motorboot auf Höhe der Ortschaft G. Nach übereinstimmenden Zeugenaussagen wollten die Freunde vom Wasser aus den Sonnenaufgang betrachten. Als sie in den Morgenstunden vermisst wurden, alarmierte der Vater von Sebastian Z. die Wasserschutzpolizei. Der jüngere der beiden Männer konnte am Unglücksort nur noch tot geborgen werden. Markus P. wird weiterhin vermisst. Die Polizei geht davon aus, dass die starke Uferströmung seinen Körper abgetrieben hat. Polizeisprecher Oliver Neidhart nimmt den Ausgang dieser Bootsfahrt zum Anlass, auf die immer wieder unterschätzten Gefahren des Sees hinzuweisen: »Schwimmwesten müssen so selbstverständlich werden wie Sicherheitsgurte. Auch für die Ortskundigen. Wir fordern das seit Jahren.«
Ich las den Artikel, als handele es sich um einen entfernten Bekannten. Markus ertrunken? Bilder stiegen in mir auf, die zu dieser Nachricht nicht passen wollten. Krampfhaft bemühte ich mich, sie zu fixieren, ehe sie wieder verschwanden. Im Moment des Aufwachens war ich überzeugt gewesen, mich an meinen ganzen Traum erinnern zu können – und stolperte doch sofort wieder über merkwürdige Löcher, Ungereimtheiten, Lücken. Jedes bewusste Zögern hatte die Bildergeschichte geschwächt, bis wieder einmal nur die Essenz übrig geblieben war: Ich war auf einer Sklavenauktion gewesen, so authentisch, dass ich mich noch in der Erinnerung daran schüttelte. Das kam davon, wenn man sich so intensiv in Historienschmöker vergrub! Und doch: Da war Markus’ Gesicht. Es schaukelte losgelöst vom übrigen Körper auf unsichtbaren Wellen wie ein Foto, das auf dem Wasser treibt. Seine Augen sahen durch mich hindurch – große, silbergraue Spiegel. Dann versank das Gesicht.
Abwesend umfasste ich mit den Händen meine Oberarme und
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