Vaclav und Lena
allem Gedanken an seinen Vater, der seinen Sohn verrät, anstatt über alles mit ihm zu reden, und der nicht väterlich ist und keine Männergeheimnisse mit ihm teilt wie die Väter im amerikanischen Fernsehen.
Aber vor allem ist es schwierig, nicht mehr daran zu denken, dass das Video, das ihm sein Vater geschenkt hat, vielleicht kein echtes Video ist, sondern womöglich ein Video, das Mr. David Copperfield gestohlen wurde. Und das macht Vaclav Sorgen. Er muss später ja um die Welt reisen und sich das Vertrauen und den Glauben der Nation und seiner Fangemeinde erst verdienen. Gleichzeitig war dieses Video – vielleicht eine ganz üble Sache – bis jetzt das Netteste, das sein Vater in seinem ganzen Leben je für ihn getan hat, außer dass er ihm die Möglichkeit gegeben hat, als Mensch auf die Welt zu kommen, was nichts ist, wofür Vaclav seinem Gefühl nach besonders dankbar sein sollte, denn was sonst hätte er tun sollen?
|47| Lena schaut weg
Vaclav ist aufgeregt, Lena in der ES L-Stunde zu sehen und ihr das von der DV D-Raubkopie zu erzählen. Denn schon allein dadurch, dass sie etwas Schlaues zu der DVD sagt oder ihm bloß zuhört, wird er sich besser fühlen. Das ist etwas, was Lena bei Vaclav schafft: Sie macht alles besser, einfach dadurch, dass sie da ist. Vaclav hofft, dass er bei ihr das Gleiche erreicht.
An der Tür des ES L-Raums wünscht ein Poster in vielen Sprachen
Willkommen
, darunter auch Russisch, Japanisch, Chinesisch, Koreanisch und Arabisch, also solche Sprachen, die ihr eigenes Alphabet haben.
Als Vaclav das Klassenzimmer betritt, steht auf der Tafel: »Willkommen! Bitte nehmt eure Hausaufgaben und vergleicht eure Lösungen mit einem Partner.« Plötzlich hat Vaclav ein mulmiges Gefühl. Er hat seine Hausaufgaben nicht vollständig gemacht. Das ist ungewöhnlich für Vaclav, denn er macht seine Hausaufgaben sonst immer alle. Eigentlich ist es eine Lüge, zumindest eine Halbwahrheit, zu behaupten, dass Vaclav seine Hausaufgaben nicht vollständig gemacht hat. Die Wahrheit ist, dass Vaclav mit seinen ES L-Hausaufgaben nicht einmal angefangen UND sie daher auch nicht beendet hat. Als seine Mutter ihn fragte, ob er alle seine Hausaufgaben gemacht habe, hat er ein bisschen geschummelt und Ja gesagt, obwohl er noch ein ES L-Arbeitsblatt zu erledigen hatte. Er hatte es später machen wollen, doch dann passierte so viel, und er vergaß es.
Jetzt vermischt sich Vaclavs schlechtes Gewissen, weil er die Hausaufgaben vergessen hat, mit den Sorgen wegen der |48| Raubkopie und wegen Lenas Nein und der schlechten Erinnerung an das schreckliche Gespräch mit seiner Mutter, und dieses Gefühlsgemisch treibt heiße Tränen in Vaclavs Augen.
»Platz nehmen! Alle. Nehmt Platz!«, sagt Ms. Bisbano.
Dieser Satz, den Ms. Bisbano häufig gebraucht, ist für Vaclav verwirrend, er weiß ja, sie meint, alle Schüler sollen sich hinsetzen, und sie meint nicht, alle Schüler sollen ihren Platz nehmen, außerdem, wohin damit?
Vaclav hat jetzt keine Zeit, Lena von der Raubkopie zu erzählen. Auch würde er Ms. Bisbano gern ruhig und vertraulich sagen, dass er zum ersten Mal in diesem Jahr seine Hausaufgaben vergessen hat, und er würde ihr gern noch sagen, dass er sie morgen zur Kontrolle vorzeigen wird, aber für all das ist es nun zu spät.
Lena kommt mit Marina und Kristina ins Klassenzimmer, den einzigen beliebten Mädchen in der ES L-Klasse . Sie haben blondes Haar und tragen es beide genau auf die gleiche Art, nämlich als Pferdeschwanz seitlich am Kopf, was aussieht, als würden die Trägerinnen gleich zur Seite umkippen. Marina und Kristina reden mit Lena, und Lena lächelt. Vaclav winkt Lena zu, damit sie ihn sieht und zu ihm kommt, weil er ihr das von der Raubkopie unbedingt vor Unterrichtsbeginn erzählen möchte. Auch hätte er gern, dass sie neben ihm sitzt oder auf dem Platz vor ihm oder hinter ihm wie sonst immer.
Lena sieht kurz zu Vaclav herüber, aber es scheint, als wäre sein Rufen nicht stark genug und Marinas und Kristinas Ziehen stärker, denn Lena folgt den Mädchen und setzt sich zu ihnen. Vaclav beobachtet Lena noch, die weit weg von ihm auf der anderen Seite sitzt, als Ms. Bisbano hinter ihm auftaucht.
|49| »Vaclav, wo sind deine Hausaufgaben?« Sie sagt das in normalem Tonfall, so als wäre die Frage nicht das Erschreckendste auf der Welt.
»Öhhhh …«, sagt Vaclav, was eigentlich keine richtige Antwort ist, sondern nur ein Laut.
»Wo sind deine Hausaufgaben,
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