Vaclav und Lena
werden wir unsere Show ohne Erlaubnis machen, heimlich.« Lena verlangsamt noch immer nicht ihren Schritt und blickt nicht einmal zurück, um Vaclav »Nein« zu sagen. Sie geht einfach weiter, als wäre er nicht da.
Um nicht von einem Auto überfahren zu werden, macht Lena an der Ecke der Achten Straße und der Avenue R halt, einer sehr belebten Kreuzung. Notgedrungen muss sie neben Vaclav stehen bleiben, aber ihr Gesichtsausdruck bleibt abweisend, und sie würdigt ihn keines Blickes.
»Ich werde für dich deine Hausaufgaben machen«, sagt |56| Vaclav, und er kann von der Seite sehen, wie sich eine ihrer Augenbrauen nach oben bewegt und sich neben ihrem wuscheligen Haar Fältchen an der Stirn bilden.
»Alle«, sagt er, und die Augenbraue bleibt hochgezogen. »Jeden Tag.« Lenas Augenbraue senkt sich.
»ESL?«, fragt sie.
»Auch ESL.«
Sie atmet tief durch und schaut ihm direkt in die Augen.
»Dah. Aber nur heimlich. Meine Freundinnen dürfen nichts wissen, und wir sprechen in der Schule nicht.« Sie blickt in beide Richtungen, und als sie sicher ist, dass niemand in der Nähe ist, sagt sie: »Wir treffen uns bei dir zu Hause nach Schule. Nicht draußen. Und kein Zur-Schule-Mitlaufen.«
»Okay! Abgemacht. Hier. Nach der Schule. Wir beginnen mit den Proben.«
»Zuerst Hausaufgaben«, sagt Lena. »Dann anfangen. Bye!«
Lena geht so schnell los, dass Vaclav an der Ecke zurückbleibt und zusehen muss, wie die Autos vorbeirauschen. Er ist so begeistert, seine Assistentin wiederzuhaben, bereitwillig oder nicht, dass es ihm gar nicht in den Sinn kommt, verletzt oder traurig zu sein. Ihm fällt auch nicht auf, dass Lena, seine einzige Freundin, seit sie beide klein waren, nicht mit ihm gesehen werden will. Er denkt, dass sie für alle Zeit seine reizende Assistentin und eines Tages seine Frau sein wird. Vaclav ist nicht traurig an diesem Tag, an dem er nicht mehr mit ihr zur Schule und nach Hause zurückgeht, diesem Tag, an dem sie ihm sagt, er solle sie nicht vor ihren neuen Freundinnen in Verlegenheit bringen.
|57| Lena sucht nach einem Ort
Nach der Schule befolgt Vaclav genau das von Lena Verlangte. Weitgehend. Doch er tut auch einige Dinge, die Lena nicht wollte. Er wartet auf sie vor dem Schulgebäude, ja. Er packt seinen Rucksack, noch bevor der Unterricht zu Ende ist, damit er gleich beim Läuten nach draußen stürzen kann, ja. Er sitzt lauernd da, sein Körper ist in Erwartung des Läutens angespannt, ja. Er stürzt in der Sekunde, wo es läutet, nach draußen, ja. Er läuft auf den Korridor, ignoriert die Ermahnungen, auf dem Korridor nicht zu laufen, ja. Er sprintet aus der Schule und versteckt sich hinter einem Baum, von dem aus er die Tür sehen kann, durch die Lena herauskommen wird, ja. Er folgt ihr in kurzem Abstand, nahe genug, um zu hören, wie sie zu laut mit Marina und Kristina lacht, ja. Zugegeben, aber! Er versteckt sich hinter Sträuchern, Briefkästen und Autos, damit Lena ihn nicht entdeckt und nicht ahnt, dass er sie hören kann.
Nein, er lässt Lena nicht völlig allein, bis es Zeit ist, für die Zaubervorführung zu üben. Nein, er geht nicht direkt nach Hause, um dort auf sie zu warten, wie sie verlangt hat. Stattdessen folgt er ihr den ganzen Weg zum Haus der Tante. Er glaubt, dass es gut ist, immer für jemanden da zu sein, auch wenn es nicht das ist, was Lena will.
Vaclav beobachtet von der Straße aus, versteht aber nicht genau, was Lena da gerade macht. Sie geht mit Marina und Kristina heim. Auf dem Bürgersteig verabschiedet sie sich lachend von ihnen, hüpft dann die Treppe zum Haus der Tante hinauf und legt die Hand auf die Klinke der Außentür, so als |58| wolle sie eintreten, tut es aber nicht. Vaclav beobachtet hinter einem großen blauen Briefkasten versteckt von der Straßenseite gegenüber, wie Lena die Hand an die Tür legt und Marina und Kristina nachblickt, bis sie um die Ecke biegen. Dann springt Lena die Treppe hinunter, ohne das Haus der Tante überhaupt zu betreten. Vaclav kommt hinter dem Briefkasten hervor, lächelt und winkt. Lena bleibt stehen.
Vaclav kann sehen, dass Lena zornig ist, denn ihr Gesicht hat einen verärgerten Ausdruck angenommen, und es ist gar nicht mehr ihr vor lauter Konzentration komisches Gesicht. Sie atmet tief ein, ihre Augen werden groß, und sie starrt Vaclav böse an.
Vaclav weiß, dass er nicht so gehandelt hat, wie Lena es wollte. Er ist sich aber nicht sicher, warum Lena zornig auf ihn ist. Sie machen immer alles gemeinsam. Es
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