Vaclav und Lena
fallen, sogar über Lenas Kopf.
Das erste Mal machte sie das, weil sie jeden Abend bei Vaclav |112| genau dasselbe tat; es war ihr gemeinsames Ritual zum Schlafengehen. Vaclav klettert immer noch in sein Bett und liegt regungslos da, und sie tut so, als ob sie ihn nicht sehen und zufällig das Bett mit ihm darin machen würde und recht verärgert wäre über den unerklärlichen Klumpen. Und irgendwann beginnt sie dann schließlich, ihm eine Gutenachtgeschichte zu erzählen, in der Hoffnung, dass der hartnäckige Klumpen so irgendwie zum Verschwinden gebracht wird.
Am ersten Abend verhielt sich Rasia mit Lena genau wie mit Vaclav, weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte machen sollen, nachdem sie zu lange darauf gewartet hatte, dass jemand kommen würde, um das Mädchen abzuholen. Am Ende hatte sie sich entschieden, Lena nach Hause zu bringen. Aber sie hatte eine Ewigkeit warten müssen, bis Yekaterina auf ihr Klingeln hin die Tür öffnete. Und sie hatte zu lange gebraucht, um endlich die Angst und die Scham im Gesicht des Mädchens zu bemerken, und sie hatte zu lange im Eingang gezögert und auf die überquellenden Aschenbecher gestarrt, auf die scharfen Kanten am gläsernen Couchtisch und die überall verstreuten Kleider. Sie war wie erstarrt gewesen und hatte nicht gewusst, was sie tun sollte, und so tat sie das, was ihr in dieser Situation vertraut war. Rasia sagte Lena, dass sie ins Bett gehen solle. Lena folgte gehorsam und marschierte umgehend in ihr Zimmer. Rasia folgte ihr. In dem Zimmer lag nur eine leere Matratze auf dem Boden. Rasia blieb ungläubig stehen, bis sie bemerkte, dass Lena schüchtern darauf wartete, dass sie das Zimmer verlassen würde, damit sie sich ausziehen und ihren Schlafanzug anziehen konnte.
Draußen im Flur wartete Rasia einige Minuten lang und ging dann ins Zimer zurück und sagte, Lena solle sich ins Bett legen. |113| Lena tat das auch, und dann spielte Rasia ihr Zubettgehenspiel und tat so, als wäre Lena gar nicht da.
Während ihres Bettrituals kicherte Lena nicht so wie Vaclav, wenn Rasia sagte: »Machen wir das Bett.« oder »Wo in aller Welt kommt dieser Klumpen her!« Lena schien sich dem Ritual zu unterwerfen und es zu mögen, aber sie lächelte nie. Dennoch hatte Rasia in all den Jahren nie daran gedacht, auch nur ein einziges Wörtchen oder eine winzige Geste an dieser Routine zu ändern oder auszulassen.
An diesem Abend spielte Rasia das Spiel mit Lena, weil sie das fünf Jahre lang jeden Abend so gemacht hatte. Rasia machte ihre sinnlosen Versuche, den Klumpen zu beseitigen, indem sie die Decke straffer zog und sie neben dem Klumpen, über ihm und um ihn herum glatt strich, und dann sagte sie:
»Okay, Klumpen. Du gewinnst. Eine Geschichte muss her. Wenn man etwas – oder jemand – nicht loswerden kann, sollte man immer eine lange, langweilige Geschichte erzählen, damit es sich davonmacht.«
Die Gutenachtgeschichte vom Prinzen, der neunundneunzig Nächte wartet
Rasia setzt sich ans Fußende von Lenas Bett, was nichts anderes ist als Lenas Matratze auf dem Fußboden.
»Okay, hier ist also die Geschichte.« Rasia erzählt ihre Gutenachtgeschichte |114| auf Russisch, obwohl Russisch sonst streng verboten ist. Rasia macht das Lena zuliebe, damit die ihr mühelos folgen kann, aber sie tut es auch für sich selbst.
»Es war einmal ein fernes Land, genannt Moskau, da lebte eine Prinzessin. Nur dass du Bescheid weißt, falls du schon davon gehört hast, das Moskau von heute ist ganz anders als das Moskau von damals, das Märchen-Moskau von ›es war einmal‹. Im Moskau dieser Geschichte gibt es keine Menschen, die um Brot anstehen, sondern nur Leute, die frisches Brot vom Bäcker weiter unten an der Straße kaufen, und zwar mit echtem Geld, nicht mit Geld, das weniger wert ist als das Papier, auf dem es gedruckt ist. Es war einmal in Moskau, da konnte man die Straße entlanggehen, ohne an jemandem vorbeizukommen, der in der Gosse sitzt und einem zeigt, wie viele Finger er im Gulag verloren hat.
Okay, wo waren wir stehengeblieben? Da gab es eine Prinzessin, und diese Prinzessin spazierte gern auf Märkten herum, in schäbigen Fetzen und hässlichen Hosen so wie ein Bauer. Denn wie die meisten Prinzessinnen in einer Geschichte hasste sie es, Prinzessin zu sein, und sie wusste nicht, wie glücklich sie dran war. Sie täuschte gern vor, keine Prinzessin zu sein, denn dann fühlte sie sich wie ein normales Mädchen.
An einem schönen sonnigen Tag spazierte sie auf
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