Vaclav und Lena
ihr vorbeischauten, erzählte sie regelmäßig, dass sie Angst davor habe, ein Schwarzer werde sie überfallen. Oder gleich einer von den Söhnen ihrer Freundinnen, denen jeder Respekt fehlte und die so viel Kriminelles anstellten, dass man nicht wusste, wem überhaupt noch zu trauen war. Oder sie hatte Angst, dass sie hinfallen und sich die Hüfte brechen würde, so wie Mrs. Galipova, die es allein nicht mehr schaffte, worauf ihre Söhne und Töchter sie in dieses gottverlassene Altersheim gesteckt haben, das schlimmer als die Hölle war. Oder dass sie von einem dieser verrückten Taxifahrer überfahren würde.
Doch der wahre Grund, warum Radoslava Dvorakovskaya die Wohnung nicht verließ, war, dass sie faul und fett war und sich nicht gern bewegte. Sie war schon immer so gewesen, als Kind war sie faul und boshaft, als erwachsene Frau stets unfreundlich und wenig hilfsbereit, und das Alter hatte ihr endlich einen |202| herrlichen Vorwand geliefert, um genau das zu tun, was sie schon immer gewollt hatte. Sie jammerte mit Hingabe, dass alt zu sein schrecklich war, eine Schande, und sie klagte darüber, wie entsetzlich es war, für sich selbst zu sorgen, doch in Wahrheit war das Alter Radoslavas wahr gewordener Traum.
Und dann kam Lena. Lena verdarb alles. Das war kein Geheimnis. Radoslava Dvorakovskaya schrie das Mädchen immer auf Russisch an: »Yelena! Ich bin alt, und ich sterbe, und du hast mir meine letzten Ruhejahre verdorben.« Gewöhnlich waren andere Leute zugegen, denn Radoslava Dvorakovskaya hatte oft Besuch. Lena war immer da. Lena war scheu und still und freundete sich nicht mit den anderen Kindern in dem Mietshaus und auf der Straße an. Sie hatte Angst vor diesen Kindern, die sich schon kannten und herumrannten und brüllten und viel Krach machten. Sie konnte sich nicht vorstellen, mit ihnen etwas zu unternehmen. Wenn sie und Radoslava Dvorakovskaya sich aus dem Gebäude nach draußen zum Lebensmittelgeschäft wagten oder zum Wäschewaschen, Postverschicken und -abholen, schmiegte Lena sich eng an Radoslavas Beine, griff mit ihren Händen nach Radoslavas Kleid und blieb nahe an ihren breiten, weichen Flanken. Radoslava Dvorakovskaya schlug nach ihr wie ein Kuhschwanz nach Fliegen.
Noch nie hatte Lena so viel über ihre Mutter erfahren wie an dem Tag, als sie mit dem Flauschteppich spielte, und dieser Tag war ihr deshalb besonders in Erinnerung geblieben. Sie lag bäuchlings auf diesem grünen Teppich und stellte sich vor, er wäre ein üppiger Wald oder ein Dschungel, und sie ließ die Finger durch den Dschungel-Flor gleiten, winzige, blasse, rundliche Forschungsreisende in einer Wildnis dichter Wollfäden. |203| Ihre Finger unterhielten sich miteinander, oder sie erkundeten einfach nur, wobei sie den lauernden Gefahren geschickt aus dem Weg gingen. Bestimmt schlichen Tiger herum! Sogar Löwen. Oder diese schwarzen Panther!
Während Lena mit dem Teppich spielte, saß Radoslava Dvorakovskaya wie immer nicht weit weg am Küchentisch mit den Freundinnen, die gekommen waren, um ihr seelischen Beistand zu leisten. Sie rauchten, tranken Tee und nahmen mit spitzen Fingern vom trockenen Gebäck in der Tischmitte. Dabei schwatzten und lamentierten sie auf Russisch.
»Warum gibst du sie nicht jemand anderem? Warum musst ausgerechnet du diese Last tragen?« Das kam von Mrs. Yoblokov, die mit Radoslava Dvorakovskaya an jenem Tag mit am Tisch saß. Ihr Mann lebte, ihre Söhne waren auf der Highschool, waren laut Mrs. Yoblokov gut aussehend und lernten fleißig, um später Mediziner zu werden. Mrs. Yoblokov arbeitete nicht, was relativ ungewöhnlich war, aber sie stattete all ihren Bekannten ihren Besuch ab, um traurige Geschichten von den jeweils anderen zu erzählen und sich dabei aufzuregen. Ihr Leben war sehr beschwerlich, denn sie fühlte den Schmerz jedes Einzelnen so sehr, dass sie ihn immer mit allen anderen teilen musste. Von jedem Einzelnen nahm sie ein bisschen Schmerz mit, und dann redete und redete sie und sorgte dafür, dass jeder das Leid aller kannte.
Wenn man zum Beispiel gestürzt war und sich den Knöchel verstaucht hatte, erzählte sie von der Nachbarin, die im Schlaf gestorben war. Oder sie sagte: »Du glaubst, das ist schlimm? Dann solltest du mal Malka sehen. Die hat so viel Schmerzen, die kann sich nicht mal rühren! Nur ein verstauchter Knöchel, |204| da kannst du von Glück sagen. Ist das mit Malka nicht furchtbar? Es ist furchtbar. Ach, ich kann es nicht mehr ertragen, es
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