Vaclav und Lena
Augen hat sie zu viel dunklen Lidstrich gemalt. Manche tragen Lidstrich auf, um ihre Augen zu verschönern oder um sexy auszusehen, aber Serena trägt den dicken Lidstrich anscheinend nur um seiner selbst willen. Vielleicht möchte sie erwachsener wirken.
»Bist du okay?«, fragt Serena wieder. Lena bewundert den Mut, einfach und ohne ersichtlichen Grund viel Lidstrich zu tragen. Lena wird sich bewusst, dass sie selbst nichts einfach nur so tut, und sie ist von sich enttäuscht.
»Ich mach mir Sorgen um die Ader auf deiner Stirn«, sagt Lena. Der Satz gibt ein Gefühl wieder, von dem sie nicht einmal wusste, dass sie es verspürte. Das Gefühl tauchte auf und wurde sofort in Worte umgesetzt.
»Du machst dir Sorgen um meine Ader?«, fragt Serena.
»Leute, raucht ihr Zigaretten hier drin?« Es ist ihr nicht peinlich, wie förmlich sie das Wort »Zigaretten« gebraucht. Sonst fällt ihr so etwas schwer. Vielleicht könnte sie im Augenblick sogar Periode, Vagina, Pubertät und Bauchnabel sagen.
»Ja. Sorry. Möchtest du eine?«
»Ja. Danke.« Wieder hat sie ehrlich geantwortet, ohne nachzudenken, ohne Umschweife. Lena sagt gewöhnlich nicht genau das, was sie meint, ohne abzuwägen, und sie hat noch nie eine Zigarette geraucht.
»Möchtest du hier rein? Hier ist massig Platz, ist ja die Behindertentoilette.«
»Nein«, sagt Lena. Serena reicht ihr unter der Trennwand eine Zigarette hindurch und dann ein Feuerzeug.
|194| »Ich weiß nicht, wie das geht«, sagt Lena, wieder kein bisschen verlegen, obwohl ihr bewusst ist, dass das nicht cool ist.
»Mach auf«, sagt Serena. Lena greift nach oben und tastet nach dem Riegel, behält aber den Fleck noch im Auge. Serenas Füße kommen in ihr peripheres Blickfeld und kreuzen sich dann. Serena geht in die Hocke, und nun ist Serenas ganzer Körper in ihrem Blickfeld. Lena speichert die Koordinaten des Flecks in ihrem Gedächtnis. Da ist er. In der Ecke von der Linoleumfliese. Nicht die Fliese da, die Teil dieser Toilettenzelle ist und auch Teil der benachbarten. Die erste Fliese von links, die allein zu dieser Toilette gehört.
Lena verlagert ihre Aufmerksamkeit vom Fleck zu Serenas Gesicht. Serena nimmt die Zigarette aus Lenas Hand, zündet sie an und reicht sie zurück.
»Zieh nur ein klein wenig, nicht viel«, sagt Serena.
»Ich werde sie nicht rauchen. Ich möchte sie nur halten und die Asche wegschnipsen.«
»Okay«, sagt Serena. Lena schaut auf Serenas Gesicht. Da gibt es viel zu betrachten. Da ist der Lidstrich, schwarz, und da ist das Make-up, das sie viel blasser erscheinen lässt, als sie ist. Ihr Haar ist in Zöpfe frisiert, doch mit vielen kleinen Flechtbändern, dazu noch jede Menge kleiner Clips. Außerdem sind ihre Augenbrauen absichtlich ausgedünnt. Ansonsten hat sie genau dasselbe Gesicht, das sie hatte, als Lena mit neun in diese Schule kam und Serena doofe Modejeans trug wie jeder andere auch, bevor sie alle zu einer Art Person wurden; damals versuchten alle nur, Mathe zu lernen und sich nicht in die Hose zu machen.
Lena möchte Serena davon erzählen, wie unverändert ihr Gesicht ist. Das ist eine interessante Beobachtung, aber sie hat |195| Angst, Serena könnte sich aufregen und es falsch verstehen, weil sie anscheinend erwachsen aussehen möchte. Plötzlich ist Lena nicht ehrlich, sie sagt nicht alles, was sie denkt. Lena fühlt eine überraschende Traurigkeit über diese Sperre zwischen Serena und ihr, zwischen allen Menschen. Jeder ist ängstlich, und jeder trägt etwas zur Schau, aber niemand will, dass man Bescheid darüber weiß, und niemand möchte, dass etwas dazu gesagt wird. Jeder möchte als toller Superheld durchgehen, schon vollkommen in diese Welt geboren, niemand möchte eingestehen, dass er sich bewusst selbst erschafft, aber jeder tut es. Jeder, denkt Lena.
»Warum hast du dich hier eingeschlossen?«, fragt Serena.
»Ich glaube, weil ich diesen Fleck auf dem Boden gefunden habe. Er ist sich seiner nicht bewusst und besonders.«
»Ja«, sagt Serena. Nickt. Lena ist überrascht, dass Serena sie sofort versteht. Dann denkt sie, Serena stimmt womöglich bloß zu, um nett zu sein, aber es gibt auch eine Chance von fünfzig Prozent, dass Serena begreift. Und dann denkt Lena, dass sie selbst nicht hundertprozentig sicher ist, den Fleck zu verstehen, aber ihr gefällt, wie Serena einfach nickt und Ja sagt. Andererseits war das Konzept vom Flecksein des Flecks womöglich jedem klar und Serena immer schon im Bilde, und nur Lena hat es
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