Vaclav und Lena
erst jetzt entdeckt. Es wäre nicht das erste Mal, dass Lena überrascht ist, etwas zu entdecken, das jeder andere schon die ganze Zeit über gewusst hat.
»Außerdem«, sagt Lena, wobei ihr erst, als das Wort die Luft in der Toilette vibrieren lässt, bewusst wird, dass es ein »außerdem« gibt, »hab ich Geburtstag, und ich weiß absolut nichts über meine Geburt.«
|196| Lena merkt, dass sie jetzt eine Erklärung nachschieben müsste, dass sie einfach weiterreden und Serena das Ungeheuerliche über sich erzählten sollte, das so vieles andere in ihrem Leben berührt und das sich in dem Satz zusammenfassen lässt: Ich bin nicht wie die anderen, der erste Teil meines Lebens ist ein unglaublich blödes Durcheinander.
»Ich bin adoptiert worden, als ich neun war«, beginnt Lena.
»Weiß ich«, unterbricht Serena. »Sorry, weiter.«
»Weiß das jeder?« Lena weiß, dass alle ihre Freundinnen das wissen, aber sie ist überrascht, dass Serena, die nicht zu ihrem Freundeskreis gehört und mit der sie sich bis zu diesem Augenblick niemals ernsthaft unterhalten hat, es weiß. Ihr fällt ein, aber natürlich, sie kennt ja auch all den komischen Klatsch über jedermann, Dinge, die eine Mama vielleicht der anderen erzählt. Diese Art von Information kursiert eben. Über Kinder, die einen autistischen Bruder haben oder deren Papa mal fremdgegangen ist oder deren Mama früher einmal Model war oder die einen Onkel haben, der Selbstmord begangen hat, jeder weiß doch darüber Bescheid.
»Ja. Ich glaube, jeder weiß es. Ich meine, das ist ganz schön cool, oder? Es macht einen ziemlich interessant und irgendwie geheimnisvoll.« Während Serena redet, beginnt Lena über die Geheimnisse in ihrem Lebens nachzudenken, die mit ihrem fehlenden Ich unentwirrbar verbunden sind. Sie hat so vieles in ihrer Geschichte, das fehlt, Dinge, vor denen sie Angst hat, sie zu erfahren. Vielleicht sind sie der Schlüssel, um den Teil von ihr zu suchen, der anscheinend verloren gegangen, gefühllos, tot ist oder schlimmer noch.
»Ja. Ich glaube, das ist geheimnisvoll. Der ganze erste Teil |197| meines Lebens ist ein Geheimnis«, sagt Lena, »und ich glaube nicht, dass ich es länger so haben will.«
Verschwundene Eltern und das elternlose Mädchen, das nicht verschwinden will
Lena weiß nicht, wo sie zur Welt gekommen ist. In einem besetzten Haus in Moskau? In einem Mietshaus aus Beton in Brighton Beach? Jemand musste es doch wissen. Lenas Eltern, wo immer sie sein mögen, wissen es bestimmt, doch Lena selbst hat nicht die geringste Ahnung. Alles, was sie weiß, ist, dass sie als kleines, elternloses Kind in Brooklyn auftauchte. Wie sie von dort nach Brighton Beach kam, bleibt ihr ein Rätsel.
Lena versucht sich vorzustellen, was passiert ist. Ihre Eltern kamen aus Russland, und sie wurde in Brooklyn geboren. Oder sie wurde in Russland geboren und ihre Eltern haben sie hierher mitgenommen. Dann sind sie entweder nach Russland zurückgekehrt und haben sie allein dagelassen, oder sie befinden sich immer noch irgendwo in Amerika. Wie auch immer, sie lassen Lena in Brighton Beach und verschwinden einfach. Lena verschwindet indes nicht, sondern bleibt jämmerlich zurück wie ein trüber Fleck. Lassen Lenas Eltern das Kind in der Obhut eines Babysitters? (»Hier, pass mal ein paar Stunden auf die Kleine auf, okay? Dah?«) Oder auf einer Treppe? In einer Empfangshalle? Bei einem Portier? Vielleicht hatten sie ja vor, |198| sie mitzunehmen, haben alles zusammengepackt, all die kleinen Babysachen, die Windeln und Nuckel, das Milchpulver, die Kleidchen und die Vorlesebücher zum Einschlafen … Ihr Flugzeug schwebte schon über dem großen, stinkenden Atlantik, und wie im Comic tippten sie sich an die Stirn: »Das Baby! Wir haben das Baby vergessen!«
Lena versucht, sich ein Bild zu machen, versucht, sich vorzustellen, wie sie hier hängengeblieben ist. Vielleicht ist ihren frisch eingewanderten Eltern etwas zugestoßen, und sie haben sich verzweifelt bemüht, jemanden zu finden, der sich um die Kleine kümmert. Sie stellt sich vor, dass es überall entfernte Verwandte gab. Vielleicht waren ihre Großeltern noch in Russland. Diese Verwandten ihrer Eltern trinken Wodka, tauschen Nachrichten aus, vertiefen ihre Beziehungen zueinander (Vetter und Cousinen dritten Grades oder um mehrere Ecken miteinander verwandt, »aber aufgewachsen sind wir wie Geschwister!«), und beginnen irgendwann, sich zu distanzieren (Vetter und Cousinen vierten Grades. Nur
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