Vaclav und Lena
durch Heirat, und die hat nicht lange gehalten. »Eigentlich sind wir nicht richtig miteinander verwandt, sonst würde ich das Mädchen ja gerne aufnehmen, unbedingt, aber bei der angespannten Lage, den Preisen, ein Kind aufzuziehen, das nicht einmal zur Familie gehört, und überhaupt, wo ist ihre Familie? Die sollte die Verantwortung übernehmen!«). Und am Ende will niemand Lena haben. Lena wird weitergereicht von hier nach dort und wieder zurück und merkt, dass sie eine Last ist. Sie wird immer stiller, hält sich im Hintergrund, beobachtet und will nicht stören. Und das macht sie nicht liebenswert. Denn die Leute spüren ihre Stille wie einen Laut und ihre schattenhafte kleine Präsenz und ihr ernstes |199| Gesicht wie einen schweren Brocken im Magen, und sie wollen sie nicht um sich haben.
Lena weiß nicht, wie es schließlich kam, dass sie in die Obhut einer Frau geriet, zu der keinerlei Verwandtschaft bestand, aber schon in ihren frühesten vagen, dennoch zähen Erinnerungen lebt sie bei Radoslava Dvorakovskaya, von ihr Großmutter genannt, was Radoslava Dvorakovskaya aber nicht ist.
Lena ist ein Fleck auf Radoslava Dvorakovskayas Leben
In jenem Sommer, bevor Lena fünf Jahre alt wird, hat sie bei Radoslava gelebt, soweit sie zurückdenken kann. Lena ist allein in einen kleinen Wohnblock mit vielen kleinen Wohnungen eingesperrt, in denen viele kleine alte Damen wohnen. Er liegt in einer russischen Wohngegend, die Brighton Beach heißt und ihrerseits in Brooklyn liegt, wo viele Russen und andere Einwanderer leben. Die alten Damen sehen alle gleich aus, sie sind Variationen eines Themas, mit ihrer Kopfbedeckung, den Gehhilfen, um langsam und unter Schmerzen zum Lebensmittelhändler zu gehen und die vielen notwendigen Einkaufstüten zu füllen. Notwendig wofür? Notwendig, um dem Tag einen Sinn zu geben. Notwendig, um Zwiebeln vom Stand an der Ecke der Ocean Avenue zu kaufen, denn die im Supermarkt kosten zwei Cent mehr das Pfund.
|200| Die alten Damen laufen zum Verkaufsstand mit den guten Zwiebeln und wieder zurück. Am nächsten Tag geht es zum Metzger. Für den Metzger sind die Damen alle besonders herausgeputzt. Sie schmieren sich Tönungscreme ins Gesicht, die im Farbton zu nichts passt, vielleicht am ehesten zum Hautton auf einem Foto von 1934. Darüber legen sie zu viel Rouge auf. Den Lippenstift tragen sie im ungefähren Bereich des Mundes auf, wobei das künstliche Lippenrot versucht, den Lippen zu entkommen und durch tiefe Furchen rund um den Mund ins Gesicht vorzurücken. Für den Metzger nehmen einige Frauen sogar die Lockenwickler aus dem Haar. Für ihn haben sie sich feingemacht und duften nach Parfum, das darauf hinweist, ich trage Parfum, es ist aus einem Flakon, ich habe es heute Morgen aufgetupft, bevor ich die Stützstrumpfhose angezogen habe, und danach nochmals.
Der Metzger ist ein Mann wie alle anderen, sagt Radoslava immer zu Lena. Der Metzger hat, was man braucht, sagt sie, und er weiß, dass man dafür bezahlen wird. Er weiß, dass man hungrig ist, auch wenn man so tut, als wäre man es nicht. Er lächelt einen an, begrüßt einen mit Namen, und das klingt so freundlich aus seinem festen, angenehm männlichen Mund, doch bestiehlt er einen und gibt das, was einem gehört, einer anderen Frau, wenn man nicht aufpasst, also muss man aufpassen. Wie bei allen Männern! Doch wenn du das bekommen willst, was dir zusteht, dann musst du ihn anlächeln, ihm zeigen, dass du dich mit Fleisch auskennst, dass du nicht aufdringlich bist, dass du ihm vertraust (man darf ihm natürlich überhaupt nicht vertrauen!). Gibt er einem vielleicht ein Extra-Viertelpfund, ohne es zu berechnen?, fragt Radoslava. Gibt er einem den |201| magersten Teil? Nimmt er das frischeste Fleisch oder nur die angetrockneten Reste von gestern? Wenn er dir nicht das Beste gibt, wer bekommt es dann?
Radoslava war wie eine Million anderer alter Damen in ihren
Schmata
, die auf den Bürgersteigen von Brighton Beach herumschlenderten, ihre Besorgungen machten und darauf warteten, in der Neuen Welt zu sterben, in der ihre Töchter die Vorzüge eines gesunden und blühenden kapitalistischen Marktes erlebten und ihre Acrylnägel mit Plastikperlen verzierten.
Radoslava Dvorakovskaya liebte das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, denn sie musste mehr leiden als die meisten anderen Menschen. Sie machte es sich zum Prinzip, ihre Wohnung so selten wie möglich zu verlassen. Ihren Freundinnen, den Damen, die zum Tee mit Gebäck bei
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