Vaclav und Lena
ein weiteres Argument für die Respektlosigkeit und Verantwortungslosigkeit der jungen Generation.
»Gibt es sonst niemanden?«, fragte sie.
»Es gibt die Schwester ihrer Mutter, sie ist diejenige, die sie überhaupt hier abgesetzt hat«, sagte Radoslava, und in Mrs. Yoblokovs Augen steigerte sich die Spannung.
|207| »Und warum nimmt sie das Mädchen nicht?«
»Sie weigert sich. Ich habe sie gebeten, angefleht, mir diese Last abzunehmen, um Lenas willen. Aber sie hat aufgelegt, und später hatte sie eine andere Nummer. Und wenn ich sie auf der Straße sehe, rufe ich ihr zu, aber sie läuft vor mir davon, und ich bin eine alte Frau.« Mrs. Yoblokov schüttelte den Kopf. Furchtbar. Wirklich furchtbar.
Unterdessen hörte Lena auf dem Fußboden jedes Wort. Weil man sie nicht bemerkte, nahmen Erwachsene in ihrer Gegenwart keine Rücksicht, und Lena erwarb eine außerordentliche Fähigkeit, von der die meisten Kinder träumen, sie wurde unsichtbar. Sie erfuhr alles, was sich so tat, und alles, was gesagt wurde, einfach, indem sie mucksmäuschenstill war. Sie fand, Erwachsene waren wie Tiere, wenn man sich bei ihnen still verhielt, vergaßen sie einen.
Es war schwer für ein kleines Mädchen wie Lena, so lange still zu bleiben. Doch sie verhielt sich ganz still, weil sie so Informationen über ihre Eltern, über andere Menschen, die sie vielleicht aufnehmen würden, und über ihr Leben sammeln konnte.
»Kann ich dir etwas sagen? Und das muss ein Geheimnis zwischen uns bleiben«, sagte Radoslava mit gesenkter Stimme.
»Natürlich, Radoslava. Was du mir anvertraust, bleibt unter uns. Schieß los.«
»Die Schwester ist, wie sagt man, nun, sie arbeitet in einem Club.« Mrs. Yoblokovs Augen weiteten sich. Diese Nachricht war viel interessanter als der Umstand, dass jemand nicht in der Lage war, sich anzuziehen. Die Frauen hatten allerdings nur eine unklare Vorstellung davon, was es hieß, in einem Nachtclub zu arbeiten, es hatte etwas mit Tanzen zu tun, damit, dass man |208| sich Kleider auszog, Männern Alkohol servierte, Nacktaufnahmen machte oder gegen Geld Sex anbot. In einem Nachtclub zu arbeiten bedeutete, all das zu tun und noch viel mehr.
Für Lena klang das Wort »Club« wunderbar. Sie hatte Clubs im Fernsehen gesehen. Dort hatte man zum Beispiel einen Hut mit eingraviertem Namen, eine Gruppe von Freunden und geheime Passwörter und einen geheimen Schlüssel zu einem geheimen Clubhaus. Lena wollte auch gern in einem Club arbeiten, und sie wollte gerne zu dieser Frau, die das Gegenteil von Radoslava zu sein schien.
Mrs. Dvorakovskaya Traum wird Realität
Zwei Wochen nachdem Radoslava Dvorakovskaya mit Mrs. Yoblokov zusammengesessen und über Lenas Eltern, ihre Tante und den Club und Lenas mögliche Behinderung gesprochen hatte, wachte Lena auf, während Radoslava unter der Dusche stand. Lena konnte hören, wie im Bad das Wasser lief. Sie faltete schnell ihr Bettzeug zusammen, verstaute es im Wäscheschrank und ordnete die Kissen auf der Couch, wo sie schlief. Dann setzte sie sich vor den Fernseher, schaltete ihn ein und sah einer Ziege in der
Sesamstraße
zu. Lena mochte die
Sesamstraße
, weil sie mitkriegte, was passierte, obwohl sie kein Englisch verstand, und sie mochte den komischen Laut, den die Ziege ausstieß, wenn der Hund an ihrem Kinnbart zog.
|209| Als die
Sesamstraße
vorbei war, duschte Radoslava Dvorakovskaya noch immer, und Lena musste mittlerweile Pipi machen. Sie ging zur Badezimmertür und lauschte. Dann kehrte sie zum Fernseher zurück und sah sich die Zeichentrickfilme an, die nach der
Sesamstraße
kamen. Lena mochte sie zwar, aber ihr wurde schnell langweilig, weil sie nicht verstand, was die Figuren sagten. Sie hätte den russischen Kanal einstellen können, aber der war für Erwachsene und hatte keine lustigen Filme.
Lena musste immer noch aufs Klo, und jetzt fiel es ihr sehr schwer, still zu sitzen, selbst auf dem Boden, wo sie sich vor- und zurückwiegte, den Fußknöchel fest in ihren Schritt geklemmt. Lena gelang es nicht, fernzusehen oder sich auf etwas anderes zu konzentrieren als darauf, dass sie Pipi machen musste und nicht in ihren Schlafanzug pinkeln durfte. Radoslava Dvorakovskaya würde wütend werden, wenn sie das tat, weil ihr das Arbeit machen würde (die allerdings Lena erledigen würde), und Radoslava Dvorakovskaya würde es sicher all ihren Besucherinnen erzählen, dass Lena noch in die Hose machte.
Mit unsicherem Schritt watschelte Lena zurück zum
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