Vaethyr - Die andere Welt
Anblick.
»Er stirbt«, sagte Comyn. »Wir haben ihn stabil gehalten, aber in den letzten paar Tagen …« Seine Hände schnitten durch die Luft, um seinen plötzlichen Verfall zu demonstrieren.
»Was sagt der Tierarzt?«
»Hoffnungslos. Wir haben alles versucht. Er ist am Ende.«
»Aber er ist ja mittlerweile auch schon ein ziemlich alter Knabe«, wandte Auberon vorsichtig ein.
Comyn betrat die Box und streichelte Brewsters einst massigen Nacken. Der Bulle schnaubte und drehte ihm seine trüben Augen zu. »Er ist kein sterblicher Bulle, Bron. Er kam mit mir aus den inneren Reichen. Ein Hochzeitsgeschenk meines Clans.«
Auberon hatte schon immer auf der Oberflächenwelt gelebt. Und dieser Hof war seit Generationen im Besitz seiner Familie gewesen. Comyn hingegen war ein in der Spirale geborener Aelyr. Er entstammte einem eleusinischen Clan namens Fheylim, einem zähen, wilden dunkelhaarigen Volk, mit denen auch Auberons Familie verwandt war. Was ihn und Comyn zu entfernten Vettern machte.
Vor langer Zeit, während des Sonnwendrituals in Elysium, hatte Phyllida Comyn kennengelernt und ihn dann mit in die Oberflächenwelt gebracht. Da Auberon sein eigenes Geschäft hatte und kein Verlangen verspürte, Bauer zu werden, hatte er seine Eltern gebeten, Comyn an seiner statt den Hof zu überlassen. Trotz dieses Geschenks – oder vielleicht auch deswegen – sah Comyn ein wenig verächtlich auf ihn herab, einen Elysier, der sein bäuerliches Erbe ausgeschlagen hatte, um Häuser für Menschen zu bauen. Aber Auberon versuchte diese Sticheleien zu ignorieren.
»Ich weiß«, sagte Auberon und beugte sich über das oberste Geländer der Box. »Brewster strahlt eine solche Kraft aus, als wäre er der Archetyp eines Bullen.«
»Genau das ist er auch.« Comyn streichelte die Flanke, die sich wie ein Blasebalg bewegte. »In den Mythen der Menschen wimmelt es nur so von Stieren. Er ist die Sonne, das Feuer des Lebens. Rate mal, seit wann es mit seiner Gesundheit bergab ging?«
Auberon atmete geräuschvoll aus. »Seit Lawrence die Tore schloss?«
»Ganz genau. Brewster hat seit nunmehr fünf Jahren kein Gras Elysiums mehr zu fressen bekommen und das ist das Ergebnis. Wie lange dauert es noch, bis auch wir dahinschwinden?«
Phyllida kam aus dem Dunkel des Hofs herein. Ihr Haar, das auf den Kragen ihrer Wachsjacke fiel, loderte im gleißenden Licht des Stalls.
»So stehen die Dinge, Bron«, sagte sie. »Meine Fähigkeit, Diagnosen zu stellen und zu heilen, ist auch nicht mehr so intuitiv, wie sie das mal war. Ich habe das Gefühl nur noch eine halbe Ärztin zu sein. Wir nehmen die Energien der Spirale, die uns über die Menschen erheben, so lange als gegeben hin, bis sie verschwinden.«
»Alles ist beeinträchtigt«, sagte Comyn wütend. »Alles.«
»Ich weiß«, sagte Auberon, »aber wir sind stark. Wir haben noch immer die Schattenreiche. Selbst wenn Lawrence das Portal für die nächsten fünfzig Jahre geschlossen hält, werden wir überleben.«
»Als was?« Comyn sah ihn an. »Als Sterbliche ohne Erinnerung? Ohne Chance auf Wiedergeburt, nur der schlichte alte Tod? Ist es das, was er will? Ist es das, was du für deine Kinder willst?«
»Nein, aber es gibt Schlimmeres, als auf dieser Welt zu leben –«
Comyn fiel ihm knurrend ins Wort. »Es ist unser Geburtsrecht als Elfenwesen, uns frei zwischen allen Reichen hin und her bewegen zu können – ungeachtet der Regeln, die die selbst ernannten Paragrafenreiter des Spiral Court uns auferlegen wollen. Wenn er diese Tore nicht freiwillig öffnet, Bron, egal was es mit diesen angeblichen Gefahren auf sich hat, wird er irgendwann keine Wahl mehr haben. Wir werden ihn zwingen.«
»Nein.« Auberon machte eine beschwichtigende Geste. »Ich kann dich verstehen, aber ihn zu zwingen, wäre falsch. Was wir auch von Lawrence halten mögen, er handelt zu unserem Schutz. Gut möglich, dass er schon morgen die Tore wieder öffnet.«
»Für Brewster käme das dann aber einen Tag zu spät«, murmelte Comyn. »Warum verteidigst ausgerechnet du ihn? Hast du Angst vor ihm? Freust du dich etwa, dass deinen Kindern ihr Geburtsrecht verwehrt wird und sie zu menschlichen Drohnen werden?«
»Natürlich nicht!« Gegen seinen Willen war Auberon wütend. »Aber welchen Grund sollte Lawrence haben, uns anzulügen?«
»Wer weiß?«, brauste Comyn auf und schlug mit seiner flachen Hand auf das Geländer. Brewster schnaubte und ein kleines Flämmchen loderte auf, als er seinen großen Schädel
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