Vaethyr: Die andere Welt
»Tut es das? Nun, es ist nur ein Ritual. Ich musste eine Entscheidung treffen, um all die alten Geschichten hinter mir zu lassen, und jetzt bin ich hier angelangt, vor der Guillotine, und es gibt kein Zurück mehr.«
»Wow«, meinte Mel trocken. »Klingt aber krass. Soll das heißen, dass Jons Hals darunterliegt?«
Rosie verzog den Mund zu einem gequälten Grinsen. »Da liegt alles drunter. Aber was willst du mir damit eigentlich sagen, Mel?«
»Dass ich nicht glaube, dass du ihn liebst.«
Bei diesen Worten durchzuckte es sie kalt – das wollte sie nicht an sich heranlassen. »›Lieben‹, das ist bedeutungslos. Jawohl, er ist nicht Jon und ich empfinde für ihn etwas völlig anderes – Sicherheit und Frieden anstatt qualvoller Zerrissenheit. Was ist falsch daran?«
»Nichts, aber …«
»Weißt du, es gibt mehr im Leben als Leidenschaft. Ich habe versucht meinem Herzen zu folgen und sieh doch, wohin mich das geführt hat. Manchmal muss man die Dinge ganz kühl betrachten und eine vernünftige Entscheidung mit dem Kopf treffen. Und das ist genau das Richtige.«
»Für manche vielleicht«, warf Mel ein und zog zweifelnd die Stirn kraus. »Aber nicht für dich, Schätzchen.«
Rosie kippte noch ein Glas Champagner. »Hör auf damit. Du bist einfach nur boshaft.«
»Nein, das bin ich nicht«, flüsterte Mel und legte ihre Hand auf Rosies. »Ich sage das, weil ich dich kenne.«
Rosie entzog ihr ihre Hand. Sie gab sich alle Mühe, nicht sauer zu sein, aber Mels Worte nagten an ihrer gelassenen Abgeklärtheit. »Nun, es ist geschehen. Alastair ist Teil meines Lebens und wir sind verheiratet – Ende der Geschichte.«
»O Rosie, ich weiß. Achte nicht auf mich. Ich wünsche mir für dich, dass es funktioniert.«
»Das wird es. Es muss.« Während sie sprach, nahm sie wie mit geschärften Sinnen plötzlich die Gäste wahr, die Oberflächenbewohner auf der dünnen Haut der Wirklichkeit, die immer fröhlicher wurden und Vergessen im Alkohol fanden. Zerzauste Tanten tanzten mit rotgesichtigen Onkeln, Kinder rannten durch die Abfälle aus herabgefallenen Servietten und Blumen. Rosie starrte die Szenerie an, als liefe ein Film vor ihr ab. Eine bizarre Pantomime, die mit ihr nichts zu tun hatte. Sie suchte Alastair und er war Teil davon, ein rotgesichtiger Betrunkener, der mit seinen Kumpels herumtönte.
Er sah, dass sie in seine Richtung schaute, und kam zu ihr, schleifte sie wieder auf die Tanzfläche, um zu einem gefühlsduseligen Lied eng umschlungen mit ihr zu tanzen. »Du bist mein Engel«, murmelte er. »Deine Familie ist unglaublich. Endlich habe ich Menschen gefunden, die mich nicht enttäuschen werden.« Er lachte. »Bevor ich dich kennenlernte, war ich so am Boden. Das ist alles, was ich nie hatte. Alles.«
Sie war wie ein Eiswürfel in einem Dampfbad und in Auflösung begriffen. Alastair mit seinen heißen Händen und seinem entzückten Grinsen war nur ein Teil dieser erstickenden Masse. »Das ist es, Rosie Duncan«, schnurrte er, sein alkoholgeschwängerter Atem heiß an ihrem Ohr. »Du und ich, für immer.«
Sie spürte Panik, als würde sie gepfählt.
»Ich muss mal kurz aufs Klo«, sagte sie und befreite sich aus seinen Armen.
Sie schob sich am Rand des Raums entlang, wobei sie freundliche Hände abwehrte, bis sie die Türen zum Foyer erreichte und draußen eine grüne Parklandschaft erblickte. Aber auf den Eingangsstufen standen Gäste, die sich unterhielten und rauchten. Sie machte kehrt und entdeckte einen Seitenausgang. Der führte sie auf einen Pfad, der zum hinteren Rasengelände führte, wo ein weiterer Weg sich in den Wald hinein schlängelte. Mit gerafftem Rock tauchte sie ein in den Schutz der Bäume, rannte fast, bis sie sich sicher war, von keinem mehr gesehen zu werden.
O Gott, was für eine Befreiung. Köstliche frische Luft, die Wärme der Sonne. Nichts als Natur. Die ersten gefallenen Blätter knisterten wie Bronzemünzen unter ihren Schuhen. Mit einem Blick zurück vergewisserte sie sich, dass das Gebäude außer Sichtweite war. Die Bäume umhüllten sie mit grünen Schleiern, auf die schon erste Rot-und Kupfertöne getupft waren.
Endlich konnte sie durchatmen. Sie lehnte sich an den dicken, seidigen Stamm einer Buche, schloss ihre Augen und seufzte. Die Hochzeitsmusik hörte man nur von fern. Rosie begann zu zittern, eine Schockwelle nach der anderen durchzuckte sie.
»Was habe ich getan?«, stöhnte sie. »Was verdammt noch mal habe ich getan?« Sie rieb sich die Stirn.
Weitere Kostenlose Bücher