Vaethyr: Die andere Welt
»Verdammter Mist. Scheiße .«
Das Rascheln der Schritte war so leise, dass sie dachte, es sei ein Vogel, bis sie spürte, dass sich ihr etwas mit mehr Substanz näherte. Sie riss die Augen auf. Sam stand eine Armeslänge von ihr entfernt. Dunkelblaue Jeans, ein grünblaues Batik-T-Shirt und darüber eine schwarze Bikerjacke, die er offen trug. Der Kontrast zu ihrem cremefarbenen Hochzeitsstaat gab ihr das Gefühl, kostümiert zu sein.
Sein dunkelbraunes Haar war ein wenig länger und hatte wieder goldene Spitzen bekommen, er hatte es aus dem Gesicht gestrichen, wo es aber nicht liegen bleiben wollte.
»Sei gegrüßt, Maienkönigin«, sagte er.
»Was zum Teufel machst du denn hier?«
Er betrachtete sie aus schmalen Augen, und der Anflug eines boshaften Lächelns verbog seine Mundwinkel. »Da ich nicht eingeladen bin, halte ich hier meine eigene kleine Wache ab.«
»Um Himmels willen.« Dass er hier auf der Lauer lag, während sie ihn weit weg wähnte, war ein höchst verstörender Gedanke. »Sam, du bist so bedauernswert, dass es gar keine Worte dafür gibt.«
»Und was ist mit dir? Warum bist du nicht drinnen und hältst Hof? Das ist dein großer Tag, Prinzessin.«
»Da drin ist es zu heiß«, sagte sie und wandte ihr Gesicht ab, damit er sie nicht mit seinen Augen festnageln konnte. »Ich brauchte frische Luft.«
»Aha.« Ohne hinzusehen, spürte sie, wie aufmerksam und forschend er sie betrachtete. »Du wirst dein hübsches Kleid schmutzig machen.«
»Das ist mir egal.« Ihre Handflächen waren schweißnass, ihr Gesicht brannte.
»Und dieser hysterische Anfall kommt dann wohl daher, weil du so glücklich bist, Mrs Bob-der-Baumeister zu werden, hab ich recht?« Er rückte ein wenig näher. »Drückt eheliches Glück sich jetzt in Fluchen und Seufzen aus? Ich habe dich gesehen, Rosie.«
»Du musst gehen, Sam«, sagte sie wütend. »Du solltest nicht hier sein.«
»Du bist so verdammt glücklich, dass du dich hier im Wald versteckst und deinen Kopf gegen einen Baum schlägst?«
»Ich habe nicht –« Sie hielt inne und begegnete seinem Blick. Und dieser verlangte bohrend nach der Wahrheit, wie immer. Das verächtliche Lächeln geriet ins Wanken. Seine grünblauen Augen waren traurig, intensiv, sein Ausdruck ernst. Fast bestürzt. Das von ihrem Kleid reflektierte Licht brachte Sams Gesicht zum Leuchten wie die Skulptur eines untröstlichen Heiligen.
Rosie sagte sich in aller Schonungslosigkeit: Wenn er mich dazu bringt, vor seinen Augen zu weinen, dann bringe ich ihn um .
»Du darfst nicht hier sein, Sam. Geh einfach.«
»Nein.« Er kam noch einen Schritt näher und berührte mit ausgestreckter Hand das Haar an ihrer linken Schläfe. Sie zuckte zusammen. »Nun komm schon, Rosie. Wie lange kennen wir uns jetzt? Ich erkenne eine Panikattacke, wenn ich eine sehe. Du bist zu Tode erschrocken, weil du einen Fehler gemacht hast.«
»Wie kannst du es wagen?« Sie versuchte Entrüstung in ihre Worte zu legen, was mit ihrer zitternden Stimme aber nicht sehr überzeugend gelang. »Und das von demjenigen, der mir sagte, ich sei innerlich tot? Das zeigt doch nur, dass du mich überhaupt nicht kennst. Ich bin mit Alastair zusammen. Und genau das will ich auch.«
»Unsinn«, sagte er sanft.
»Nein«, erwiderte sie zornentbrannt. »Es tut mir leid, wenn dich das aufgewühlt hat, aber du wirst es akzeptieren müssen.«
Sam schwieg einen Moment lang. Er lachte in sich hinein. »Was zum Teufel soll das, Rosie? Du liebst ihn nicht. Glaubst du wirklich, du kannst Mrs Normalo sein? Die glückliche Ehefrau mit eins Komma acht Kindern, ohne einen Tropfen sonderbar hellen Bluts in den Adern? Du denkst, du kannst dem Ganzen den Rücken kehren und so tun, als hätte die Anderswelt dich nie berührt? Ja, versuchen kannst du es, aber du kannst dich nicht einfach vom Acker machen. Sie wird dich in der Nacht zurückholen und dich wieder zurückziehen. Wem willst du was vormachen, Rosie? Das ist nicht das, was du willst. Es ist das, was Matthew möchte.«
Ihr Atem ging schnell. Mit aller Kraft kämpfte sie gegen ihre Tränen an. »Ich höre mir das nicht an. Wir haben ein paar Gespräche über den Gefängnistisch hinweg geführt. Das bedeutet jedoch nicht, dass du mich kennst, und eine Beziehung lässt sich davon erst recht nicht ableiten.« Sie machte einen Schritt zur Seite, aber er stützte sich mit einer Hand am Baumstamm ab und versperrte ihr den Weg. Der angenehme Ledergeruch seiner Jacke, mit dem sich das dank seiner
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