Vaethyr: Die andere Welt
lass uns gehen!«
»Das kann ich nicht. Sie werden von etwas geformt, das du selbst in dir trägst.«
Beim Blick nach unten sah Rosie, wie Sam die Klauenwesen bekämpfte. Doch sobald eins auseinanderbrach, kam das nächste. Er hatte inzwischen eine Technik entwickelt, den Ast so zu schwingen, dass er jedes von ihnen mit einer einzigen Drehung zu zerschmettern vermochte. »Was sagst du da – dass sie meine Ängste verkörpern?«
»Es ist etwas Tieferes.« Das Rickenmädchen seufzte. »Ich weiß, dass Lucas gehen muss. Er gehört mir nicht. Doch du solltest im Austausch für ihn etwas Kostbares zurücklassen. Das sind die Regeln des Ausgleichs.«
Rosie spürte, wie ihr Lebenssaft aus ihrem Herzen schwand. Es gab nur Sam und sie. Sollte sie ihn an Lucs Stelle zurücklassen? Undenkbar. Das Mädchen jedoch richtete einen elfenbeinfarbenen Finger auf Rosies Brustbein. »Du möchtest, dass ich an Lucs Stelle hierbleibe?« Sie hörte das Rauschen ihres Bluts in den Ohren.
»Würdest du das tun?«
»Ja.« Ihre Kehle und ihre Augen brannten. Sie schluckte. »Ja, wenn du mir versprichst, dass er wieder sicher ins Leben zurückkehrt, werde ich gerne hierbleiben.«
»Nein, Rosie«, sagte Lucas hinter ihr.
»Derartige Selbstopfer ergeben die besten Geschichten«, meinte das Mädchen lächelnd. »Das ist ein edles Angebot, aber ich meinte nur deinen Kristall. Ein Juwel für ein anderes.«
Rosie atmete erleichtert aus und ihre Hand flog an das Kristallherz, das sie um den Hals trug. Sie nestelte daran herum, bis sie die Kette geöffnet hatte. »Ja.« Als sie es der Rickendame in die Hand drückte, tat sie dies mit der festen Absicht, die Existenz der Klauenwesen zu beenden und keine Angst mehr vor ihnen zu haben. Albins Wünsche hatten keine Macht mehr. Sie stellte sich die Dornenwesen zerstückelt und zu einem Freudenfeuer aufgehäuft vor. »Nimm es mit Freude. Dürfen wir jetzt vorbei?«
»Geh und bring ihn nach Hause«, sagte das Mädchen. Sie legte sich die Kette um ihren Hals und dabei glänzten silbrige Tränen in ihren Augen. »Denkt an die Regeln. Sobald ihr den Damm betretet, musst du vorausgehen und Lucas muss dir folgen. Bleib nicht stehen, sprich nicht mit ihm und schau nicht zurück, bis du sicher durch die Tore bist. Ansonsten zerreißt du den unsichtbaren Faden, der ihn hinter dir herzieht.« Die Rickendame verließ den Ast und nahm blitzartig die Gestalt einer weißen Eule an, die dann so unvermittelt auf Rosie zugeflogen kam, dass sie fast das Gleichgewicht verloren hätte und abgestürzt wäre. Einen Moment lang bestand die Welt aus schwirrenden weißen Federn, Flügelspitzen und Klauen, die sie von der Hüfte bis zur Schulter streiften. Dann schwang sich die Eule auf. »Leb wohl, Bruder des Lichts«, rief sie, als sie in die Dunkelheit entschwand.
Bis Rosie, dicht gefolgt von Lucas, vom Baum heruntergeklettert war, waren auch die letzten Klauenwesen gefallen und Sam lehnte blutbespritzt am Stamm und rang nach Luft. »Willst du vorausgehen, Sam? Wenn wir erst mal aufgebrochen sind, dürfen wir nicht mehr zurückschauen.«
»Ja, habe ich gehört«, sagte er sachlich. »Kommt mit.«
Sie traten den Rückweg an, Sam übernahm die Führung, Rosie hielt ihren Blick auf seine Schultern gerichtet und Lucas folgte lautlosen Schritts. Zurück durch den Tempel und Garten, über die Frostbrücke zum Damm. Anfangs war es dunkel und Wolken bedeckten die Sterne, außerdem fiel feiner Nieselregen auf dem ganzen Weg bis nach Melusiel.
Rosie tat der ganze Körper weh. Dornenkratzer, blaue Flecken, aufgeschürfte Handflächen, Blasen an den Füßen. Ihre Kehle brannte und sie hatte Kopfschmerzen. Doch sie achtete nicht darauf und ging unbeirrt weiter. Viele Kilometer lagen vor ihnen und sie durften nicht anhalten und nicht sprechen oder zurückblicken. Sie traute sich kaum zu atmen.
»Wisst ihr überhaupt, wer sie ist, das Rickenmädchen?«, begann Lucas hinter ihr. Rosie öffnete die Lippen, schloss sie aber sofort wieder und widerstand dem natürlich Drang zu antworten. »Sie ist Estel, die Sternendame. Ihr Geliebter war Kern, der die Gestalt eines Waldgottes, bedeckt mit grünen Blättern, annimmt. Perseid von Sibeyla war eifersüchtig und trickste Kern aus und riss ihn in Stücke, die er dann überall in der Spirale verteilte, während ein Herbststurm einen Baum umriss. Seitdem hat Estel versucht, seine Einzelteile wieder zusammenzusammeln. Sie ist einsam. Deshalb wollte sie auch nicht, dass ich weggehe … aber
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