Vaethyr: Die andere Welt
nur, wo Matthew ist?« Die Erinnerung an seinen animalischen Zustand verbarg sich als vage Angst hinter dichten Nebelschleiern. Das bleierne Gewicht des Kummers auf ihren Schultern erschwerte jedes andere Gefühl.
»Er wird schon wieder auftauchen. Mach dir um ihn keine Sorgen.«
»Das ist das Nächste, womit meine Eltern klarkommen müssen. Wie soll ich ihnen das erklären? Ich verkrafte das nicht mehr.«
»Ich werde mit ihnen sprechen«, sagte Sam zärtlich. »Wir sind beide erschöpft, meine Liebe. Was hältst du davon, schlafen zu gehen? Ich bleibe hier unten für den Fall, dass Matthew –«
Das Telefon klingelte und schreckte sie auf. Sam stand auf, um abzunehmen, redete ein paar Sekunden mit leiser Stimme und legte dann auf. Plötzlich wurde die Last, die auf Rosies Herz lag, noch schwerer und erdrückte sie fast.
»Das war dein Vater«, sagte er. »Sie brauchen uns im Krankenhaus.«
Rosie und Sam liefen wie Überlebende eines Luftangriffs durch die langen Korridore des Krankenhauses. Alles wirkte ausgebleicht und wie im Traum. Leute drehten sich nach ihnen um und starrten ihnen hinterher. Durch Glastüren sahen sie Jessica, Auberon und Phyllida, die sich in einer Zimmerecke versammelt hatten und ängstliche Blicke auf die um Lucas’ Bett gescharten Ärzte und Schwestern warfen.
Die Stationsschwester, Kate, stellte sich ihnen in den Weg und hielt sie auf. Ernst und mitfühlend sagte sie: »Ich weiß nicht, ob Mr Fox es Ihnen erklärt hat«, sagte sie.
Sam schüttelte den Kopf. »Er sagte nur, wir sollten herkommen.«
»Es sind die letzten Tests zur Funktion des Gehirnstamms, die wir vornehmen werden«, sagte Kate einfühlsam. »Wir heben die Sedierung auf und nehmen ihn von der Herz-Lungen-Maschine, um zu sehen, ob er selbstständig atmen kann.«
»Der letzte Test?«, hakte Sam nach. »Sind die anderen fehlgeschlagen?«
»Die Neurochirurgen sind bei ihm. Sie testen ihn auf diverse Reflexe, aber leider hat er bis jetzt noch keinerlei Reaktion gezeigt. Der Apnoe-Test dauert mindestens eine Viertelstunde … Es tut mir leid, ich weiß, wie hart das für Sie ist.«
Rosie hatte das Gefühl, ins Dunkel zu abzugleiten. Alles um sie herum löste sich auf – Stimmengemurmel schwirrte ihr durch den Kopf. Als sie wieder zu sich kam, saß sie auf einem Plastikstuhl, Sam hatte seinen Arm um sie gelegt und Schwester Kate bot ihr ein Glas Wasser an. Sie schob beide beiseite wie ein Schwimmer, der vor einer dunklen Flutwelle flüchtet, stand auf und zwang sich, schwankenden Schritts auf das Zimmer zuzugehen. Die Glastüren gingen zischend auf. Die Szene war kristallklar – surreal. Chrom und Plastik, blinkende Monitore. Ihre Mutter und ihr Vater drehten sich um, um sie zu begrüßen, und sie sah Lucas, der bleich neben ihnen im Bett lag …
Und sie ansah.
Das medizinische Personal um sie herum nahm Rosie kaum wahr. Sein Anblick drang wie ein weißes Licht durch alle hindurch. Man hatte ihn mit Kissen abgestützt und den Beatmungsschlauch entfernt. Er blinzelte und versuchte zu lächeln. Mit rauer Flüsterstimme sagte er: »Da bist du ja, Ro.«
Ihre Eltern hielten einander fest, durch ihre verzweifelte Erschöpfung schimmerte Erstaunen. Sie hatten rot geweinte Augen. Auberon streckte eine Hand aus, um Rosie zu stützen, Sam folgte ihr mit einem Stuhl. Als sie sich setzte, spürte sie die Hände ihres Vaters auf ihren Schultern. Die Ärzte untersuchten Lucas und stellten Fragen, die er langsam, aber klar beantwortete.
»Was ist passiert?«, fragte Sam.
»Als sie das Beatmungsgerät abschalteten, atmete er weiter«, sagte Jessica. »Dann öffnete er seine Augen und fing wegen des Schlauchs zu husten an …«
Der Arzt wandte sich ihr lächelnd zu. »Es passiert äußerst selten, dass man in einer solchen Situation eine Spontanrekonvaleszenz erlebt, aber das Gehirn vermag unglaublich widerstandsfähig zu sein. Manchmal folgt es seinen ganz eigenen Gesetzen.«
»Und das bedeutet – er wird sich erholen, nicht wahr?« Jess’ Stimme war belegt.
»Wir werden ihn noch für ein paar Wochen hierbehalten müssen, aber ja, es sieht gut aus. Er wird sehr viel Ruhe brauchen, aber ein paar Minuten können Sie noch bei ihm bleiben.«
Es war, als wäre die ganze Welt erwacht und wärmte sich im Sonnenlicht. Die Ärzte und Schwestern hatten ein Lächeln im Gesicht, als sie spürbar beschwingt nach draußen gingen. Phyllida schloss sich ihnen an und flüsterte lächelnd: »Ich lasse euch mit ihm allein.«
»Wochen?«,
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