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Vaethyr: Die andere Welt

Vaethyr: Die andere Welt

Titel: Vaethyr: Die andere Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freda Warrington
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Vogelscheuche, die nur aus Zweigen und Dornen zu bestehen schien, warf sich auf Rosie und umarmte sie. Dornen verhakten sich in ihren Kleidern und drangen in ihr Fleisch. Sie schrie auf und wehrte sich dagegen, aber je mehr sie kämpfte, umso fester wurde sie umschlungen, gekratzt und gestochen, bis sie kaum mehr Luft bekam und stillhalten musste, damit die Dornen nicht tiefer eindrangen.
    »Sam?«, keuchte sie am Ende ihrer Kraft.
    Er war da und schlug mit einem Ast auf das Klauenwesen ein. Es krallte sich hartnäckig fest. Er schlug wieder und wieder zu, bis es zu zerfallen begann. Endlich ließ es los und Rosie blutete aus einem Dutzend Stichen. Sie sah weitere Klauenwesen kommen, die sich aus dem Gebüsch lösten, um halb menschliche Formen anzunehmen.
    »Geh!«, knurrte Sam. »Ich kümmere mich um sie.«
    Rosie kletterte, fand Auswüchse in der Rinde, auf denen sie Halt fand und sich abfedern konnte, um sich auf die dicken höheren Äste und dann hinauf in die Baumkrone zu schwingen. Ihre Hände waren wund, kalt und blutig, und außer Schmerz hatte sie kaum mehr ein Gefühl darin. Unter ihr kämpfte Sam zu ihrem Schutz. Sie konnte den wilden Kampf hören, das Knacken von grünem Holz.
    Während sie über den Abyssus hinauskletterte, schaute sie hinunter. Die Wand der Schlucht war dick mit Eis überzogen. Von irgendwo im Inneren trat ein Gletscher aus und ergoss sich gravitätisch über die Felswand, von wo er in die Unendlichkeit stürzte. Eine Säule aus Eisnebel stieg empor. Jetzt konnte sie auch erkennen, dass die Schlucht noch eine gegenüberliegende Seite hatte. Dort floss Lava über die Felswand und färbte sie scharlachrot. Das war die Ursache für das blutrote Leuchten. Zwischen den beiden gewaltigen Canyonwänden lag die absolute Schwärze des Abyssus.
    Als sie endlich den Ast erreicht hatte, auf dem Lucas saß, musste sie schluchzend nach Luft ringen. Er kehrte ihr den Rücken zu. Sie suchte Halt am Stamm und betrachtete ihn. Er saß selbstsicher auf seinem Ast, der sich unter seinem geringen Gewicht kaum bog. Seine Kleider sahen merkwürdig aus, verschwommen und in Grautönen, aber er schien doch real und substanziell genug zu sein, um hinabfallen zu können. Sein dunkles Haar umwehte seine Schultern. Er war echt und lebendig.
    »Lucas«, sprach sie ihn sanft an.
    Er schaute über seine Schulter und sah sie. »Rosie?«
    Sobald sie sein Gesicht sah, wusste sie, dass er trotz allem ein Geist war. Sein Gesicht glänzte grau. Und die Tiefenschärfe stimmte nicht, denn dort, wo Schatten hätten sein sollen, war es weiß. Es war sein Gesicht in Silberhalogenid, ein Negativ.
    Sie setzte sich rittlings auf den Ast und rutschte auf ihn zu. »Ich habe dich gesucht«, sagte sie. »Weißt du denn, wo du bist?«
    »Der Abyssus«, antwortete er und wandte sich wieder ab von ihr. »Der Kessel. Der Anfang, das Ende.«
    »Warum, Luc?«
    »Es ist so friedlich hier. Meine ganze Erinnerung besteht nur noch aus Angst und splitterndem Glas.«
    »Das war nur ein Unfall. Es ist vorbei.«
    Er antwortete nicht, sondern stierte weiterhin ins Leere. Sie war ihm so nah, wie der Ast dies gefahrlos zuließ. »Komm mit mir«, sagte sie. »Lass uns nach Hause gehen.«
    »Wenn man erst mal die Unendlichkeit geschaut hat, ist das Zuhause bedeutungslos. Einen solchen Ort gibt es nicht mehr.«
    Ihr Magen verklumpte sich eisig. »Bitte. Du bist noch am Leben. Du darfst nicht aufgeben, du bist jetzt der Torhüter.«
    »Ich weiß«, sagte er sanft. »Das ist auch der Grund, weshalb ich nicht zurückkann. Ich kann es nicht tun. Du weißt doch, was es aus Lawrence gemacht hat. Es ist zu viel.«
    »Aber du wirst nicht allein sein. Komm wenigstens mit zurück, dann reden wir darüber.«
    Er schwieg, dann sagte er: »Wenn man einmal runtergeschaut hat, kann man nicht mehr wegschauen. Ich war bereits in meiner Vorstellung hier. Und ich frage mich seitdem ständig, was das wohl für ein Gefühl sein mag, loszulassen und endlos zu fallen?«
    »Das weiß ich nicht«, sagte Rosie bitter, »aber es ist bestimmt nicht so schön, wie mit nackten Füßen auf Gras zu tanzen. Und nicht so schlimm, wie den Ausdruck auf Mums und Dads Gesicht zu sehen, wenn ich ihnen erzähle, dass es mir nicht gelungen ist, dich zurückzubringen.«
    Lucas gab einen Laut von sich, vielleicht ein Schluchzen. Rosie war verzweifelt. Würde sie versuchen, ihn körperlich zu packen, wüssten sie beide sehr schnell, wie es sich anfühlt, ins Unendliche zu fallen. »Mach mich nicht

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