Vaethyr: Die andere Welt
mal für sich selbst sorgen konnte? Und vor bitterer Enttäuschung fing er zu weinen an. »Ich kann dich nicht hier oben zurücklassen.«
»Das musst du aber, lieber Freund. Ich bin daran gewöhnt.«
»Ohne dich gehe ich nicht. Wir sind beide seine Gefangenen.«
»Weine nicht. Du hast mich wieder zum Leben erweckt«, sagte sie leise und küsste ihn.
Die süße Überraschung, ihren Mund auf seinem zu spüren, kam wie ein Überfall. Lucas war verloren. Flüsternd fragte er: »Macht ihr das immer – bei euren Torhütern?« Und ein warmer Hauch streifte sein Ohr, als sie flüsterte: »Nein. Noch nie zuvor. Ich brauche dich … damit ich wirklich werden kann …« Und er stürzte in ein weiches goldenes Feuer, taumelte von einem köstlichen Sinneseindruck zum nächsten.
Erinnerungsfetzen berührten ihn wie Elektroschocks. Die wissenden Menschenmädchen, die sich im Dunstkreis der Band bewegt hatten, deren festes Fleisch nach Zigaretten und schalem Parfüm stank und die er nie an sich herangelassen hatte. Er hatte nie eine von ihnen gehabt. Die Drogen hatten einen dämpfenden Schleier über jegliches Verlangen nach Liebe geworfen. Jon war natürlich immer da gewesen, er und die stille Erleichterung, die sie einander anboten, da es sonst niemanden gab, und über die sie bei Tageslicht niemals ein Wort verloren – aber das zählte nicht. Er war noch nie in jemandes Körper gewesen. Hatte sich die flaumweiche Perfektion eines Engelskörpers nicht vorstellen können und genauso wenig die Zärtlichkeit ihres Mundes und ihrer ihn streichelnden Hände, die ihn tief in sich hineinzogen.
Es schien kein Ende zu nehmen und war dann schlagartig vorbei. Sie raubte ihm den Atem wie ein Sturz in den Abyssus. Ekstatische Zuckungen ergriffen Besitz von ihm und schleuderten ihn aus sich heraus, als hätte ihn ein Blitz getroffen.
Während die Lust langsam verebbte, entdeckte er, dass gar niemand neben ihm war. Er umarmte die Falten einer staubigen Decke. Lawrence erwachte aus einem qualvollen Albtraum und da saß wieder der Engel am Fußende seines Betts und zeigte mit seinem Steinfinger auf ihn, die leeren goldenen Augen starr auf ihn gerichtet. » Du wirst den Schatten wecken«, zischte er. »Ich hätte dir helfen können, aber du hast mir den Rücken zugekehrt und mich vertrieben. Jetzt ist das Ungeheuer zu hungrig .«
»Nein«, keuchte er. »Ich habe die Kontrolle über die Tore!«
» Zu spät, Lawrence .« Blitze zuckten. Ein heißer Wind spielte mit dem welligen Haar. » Du hast Brawth mit deinem Zorn geweckt. Der große Schatten ist der Anfang und das Ende der Zeit .«
»Bitte.« Er wand sich und erwiderte mit rauer Stimme: »Wie kann ich ihn beruhigen?«
» Indem du alles verlierst, was du am meisten liebst «, kam die weise Antwort. » Wenn dein Schmerz stärker ist als dein Zorn – nur das vermag Brawth zufriedenzustellen .«
»Nein!«, schrie er und schreckte hoch. Jetzt war er richtig wach und schwitzte in seinen zerwühlten Laken. Es war keiner da. Die Wächterin, Iola, war geflohen und schon vor Jahren verschwunden; er hatte sie vertrieben, weil er auch sie für jemanden gehalten hatte, die sich bei ihm einnisten wollte, weil sie mit seinen Feinden unter einer Decke steckte. Keinesfalls hatte er geglaubt, sie könne ihm helfen, denn das konnte keiner. Aber immer noch suchte sie ihn in seinen Albträumen heim, eine geisterhafte Unglücksbotin, deren steinerner Finger ihn mit Winterkälte und erschreckendem Wissen durchdrang …
Während der Traum fiebrig nachwirkte, begriff Lawrence plötzlich entsetzt den Sinn ihrer Worte. Es geht um mein Ende. Und ich … Er zitterte, als all die Jahre der Angst, der Ablehnung und der eisigen Selbstkontrolle sich in einer Wut entluden, die ihn wie ein Sturzbach mitriss. Ich muss derjenige sein, der dieses Ende herbeiführt .
Der Morgen, an dem die Landwirtschaftsausstellung in Cloudcroft stattfand, war trocken und schön. Jessica und Auberon waren zeitig auf und bereit für die von ihnen übernommenen Aufgaben, darunter das Verkaufen von Eintrittskarten und das Bedienen der Gäste. Selbst Matthew kämpfte sich trotz eines offensichtlichen Katers aus den Federn. Rosie hatte zwar Schuldgefühle, weil sie sich um die Teilnahme drückte, doch sie waren nicht so groß, als dass sie ihre Pläne geändert hätte.
Sam fuhr mit ihr nach Birmingham. Es war zwar nicht gerade ein exotisches Ausflugsziel, aber das Stadtzentrum hatte sich in den letzten Jahren verändert. Die schmutzige
Weitere Kostenlose Bücher