Vaethyr: Die andere Welt
ihn tritt. Glaubst du tatsächlich, ich könnte so etwas tun? Ist es das, was du von mir denkst?«
»Woher soll ich das wissen«, sagte Lawrence. »Du bist ja nie da.«
Sam wandte sich ab und schluckte seine Wut und seine Frustration hinunter.
Wieder stieß Lawrence den Mann mit dem Fuß an, um ihn wach zu machen. »Für wen arbeitest du?« Er bückte sich und schrie ihm ins Gesicht: »Wer hat dich geschickt?«
Der Mann grunzte etwas, es hätte ein Wort sein können, war aber vermutlich bloß ein Schmerzenslaut.
»Dad, hör verdammt noch mal auf damit! Er ist bloß ein Gelegenheitsdieb, er hat nichts!«
Sein Vater ignorierte ihn. »Ich wusste es«, sagte er und richtete sich auf. »Brawth, Barada, Albin – sie stecken alle unter einer Decke. Natürlich. Was haben sie dir für einen Auftrag erteilt? Was wollen sie? Antworte!«
Die Augen des Mannes rollten unter den schweren Lidern, aber er konnte nichts mehr sagen.
»So funktioniert das nicht«, sagte Sam. »Er blutet noch immer. Verdammt.« Das Grauen tänzelte um ihn herum, aber er nahm es gar nicht wahr, spürte nichts. In seinem Kopf wälzte er verrückte Pläne, den Körper verschwinden zu lassen, aber mit jeder Sekunde wurde ihm deutlicher bewusst, dass nach diesem Augenblick alles anders sein würde. Und diese Ungeheuerlichkeit schlug donnernd auf ihn ein, doch er vermochte ihr Gewicht nicht zu spüren. Noch nicht.
Sapphire kehrte zu ihnen zurück, sie war kreidebleich.
»Ich habe einen Krankenwagen gerufen«, sagte sie. »Und die Polizei informiert.«
~ 8 ~
Dumannios
Rosies Wagen grub sich durch die Dunkelheit. Strömender Regen ergoss sich über ihre Windschutzscheibe und glitzerte hypnotisierend vor ihren Scheinwerfern. Die von waldigen Böschungen gesäumte Straße war so schmal, dass schnelles Fahren unmöglich war. Es war später Sonntagabend und sie war körperlich und seelisch erschöpft.
Sie war froh, wieder aufs College zurückzukehren. Die vergangenen paar Tage waren völlig surreal gewesen, in der einen Nacht hatten Blaulicht und Sirenen den Himmel hinter Stonegate Manor beherrscht, die Polizei war über das Gelände ausgeschwärmt und schreckliche Gerüchte machten die Runde – ein Eindringling erstochen und erwürgt, Sam unter Arrest.
Cloudcroft stand unter Schock. Die Abneigung, die man gegen Lawrence hegte, und der Ruf Sams hielten das Mitgefühl angesichts der Inhaftierung des Sohnes in Grenzen. In den Medien wurde darüber debattiert, ob Hauseigentümer das Recht hatten, ihr Eigentum zu verteidigen. In den Fernsehnachrichten wurden weinende Verwandte des Eindringlings gezeigt, die erklärten: » Gary war kein Engel, aber er versuchte von den Drogen loszukommen. Er hat den Tod nicht verdient .«
Lucas war rastlos und schwermütig gewesen. Rosie hatte ihn noch nie so oft mit Jessica streiten sehen wie an diesem Tag. »Ich kann nicht verstehen, warum sie mir nicht erlauben, Jon zu sehen«, klagte er immerzu. »Er muss Schreckliches durchmachen. Er braucht doch jetzt Freunde. Was ist nur los mit ihnen?«
»Das ist ihre Entscheidung.« Selbst Jessica war mit ihren Nerven am Ende. »Wenn uns dergleichen passiert wäre, würde ich mich auch abschotten wollen. Lass sie allein damit zurechtkommen. Stell dir vor, du wärst mit Jon in dieser Nacht auf Stonegate gewesen. Allein der Gedanke macht mich krank!«
»Nun, wir waren aber nicht da«, hatte Lucas trotzig erwidert, wie das gar nicht seine Art war. Und dann hatte Matthew sich nicht verkneifen können einzuwerfen, dass die Wilders sowieso alle verrückt seien und man jederzeit mit einer Eskalation habe rechnen müssen und es ein Wunder sei, dass Sam nicht schon früher eine derartige Show abgezogen habe.
Am Ende hatte Rosie ihre Kleider in eine Tasche geworfen und war losgefahren. Ihr kleiner VW, ein Geburtstagsgeschenk ihres Vaters, gab ihr diese Freiheit – eine seltsame Freiheit, dem Zuhause zu entfliehen, das sie liebte. Aber sie brauchte Ruhe, Erde unter den Fingernägeln, krächzende Krähen und Dryaden, die in den Bäumen über ihr wisperten. Selbst deren missgünstiger Klatsch war ihrer Familie im Moment vorzuziehen.
Sosehr Rosie Lawrence auch misstraute, Mitleid hatte sie dennoch mit ihm. Und natürlich auch mit Jon und Sapphire … sogar ein wenig mit Sam. Was für ein hoffnungsloses, schreckliches Schlamassel.
Der Wagen hüpfte über die Schlaglöcher der sich durch die Nacht windenden Straße. Am Rande ihrer Scheinwerferkegel bewegte sich eine Gestalt. Ein
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