Vaethyr: Die andere Welt
nicht helfen, aber du kannst es. Oder hast du etwa Angst, ich könnte herausfinden, dass es nichts zu entdecken gibt?«
Auf seinem Gesicht spiegelten sich Angst, Wut und Hilflosigkeit, aber selbst wenn er es versuchen würde, könnte er nicht unattraktiv wirken. »Ich weiß nicht, was du willst.«
»Doch, das weißt du, mein Lieber. Ich möchte verstehen .« Sie spielte an der Vorderseite seines Patchworkhemds herum, spürte die knochigen Rippen und sein Herz, das so schnell schlug wie das eines Vogels. »Lawrence ist mir schon eine ganze Weile kein Ehemann und dir kein Vater mehr gewesen. Ich fühle mich betrogen. Wer könnte es uns da übel nehmen, wenn wir Trost suchen?«
»Wir wollten das nicht mehr tun.« Jons Stimme schwankte.
»Nun, ich würde sagen, dass wir es noch immer brauchen«, antwortete sie mit rauer Stimme. »Du willst doch nicht, dass ich Lawrence auf deine Freunde aufmerksam mache, oder? Es gibt so vieles, von dem wir nicht wollen, dass Sam oder Lawrence es herausfinden …«
Als sie ihn küsste, waren ihre Lippen warm und fordernd, die seinen trocken und zögernd, aber er versuchte nicht, sie abzuhalten.
Es war schon dunkel, als Sam sich Stonegate Manor näherte. Die lange Reise hatte ihn erschöpft. Halb wünschte er, er hätte weiterhin am Mittelmeer bleiben können – Sonnenschein, Olivenhaine und Gelegenheitsarbeiten, mit denen er sich über Wasser hielt –, aber ein immer stärker werdender Impuls zog ihn nach Hause zurück. Die Familie, Schuldgefühle, die Hoffnung darauf, dass eines Tages alles besser würde. Bilder von einem schlanken, wohlgeformten, wunderschönen Mädchen mit einer Mähne aus pflaumenfarbenem Haar und hellen silbergrauen Augen … und die Hoffnung, dass ihre Verachtung für ihn sich gelegt hatte.
Ein paar flüchtige Freundinnen und bedeutungslose One-Night-Stands hatte es schon gegeben. Dann hatte er ein paar unselige Monate mit einem umwerfenden griechischen Mädchen verbracht, einem Traum aus honigfarbener Haut und blauschwarzen Haaren. Doch leider stellte sich heraus, dass ihr Hang zum Melodramatischen, gepaart mit ihrer Begeisterung für Schusswaffen dazu führte, dass sie bei Wutanfällen völlig wahllos auf Wände und Zimmerdecken feuerte. Am Ende war er geflüchtet, um Leib und Leben zu retten.
Doch keinen einzigen Augenblick lang hatte er aufgehört an Rosie zu denken.
Der letzte Bus von Ashvale war längst abgefahren, und da auch nirgendwo ein Taxi aufzutreiben war, lief er die letzten paar Kilometer zu Fuß. Der Berg war steil und der Wind wehte kalt wie immer, Stonegate Manor ragte vor ihm auf wie Wuthering Heights. Er warf einen Blick nach links, als er in die Auffahrt einbog, doch von dort aus konnte er Oakholme nicht ganz sehen.
Er musste an Rosie in ihrem gemütlichen Zuhause denken, das hell wie eine Herberge auf einer viktorianischen Weihnachtskarte schimmerte. Geborgen und umgeben von ihrer Familie, mit einem im Kamin prasselnden Feuer, womöglich versammelt ums Klavier, um Hausmusik zu machen. Sein eigenes Zuhause sah dagegen kalt, düster und verlassen aus. Kein einziges Licht brannte. Jon war bestimmt schon wieder auf dem College und Sapphire vermutlich in ihren eigenen Räumen, um Ashtanga-Yoga zu praktizieren oder was immer sie sonst dort oben trieb. Sein Vater saß sicherlich in der Bibliothek und brütete bei einem Glas Whiskey vor sich hin.
Nein – Sam blickte auf seine Uhr. Es war bereits Mitternacht geworden. Mit etwas Glück schliefen sie schon. Gut. Es war ihm noch weniger danach, mit ihnen zu reden, als bevor er fortging.
Er nahm den Weg, der seitlich ums Haus zum hinteren Garten führte, und betrat das Haus durch die Küchentür. Sofort fing ihn die vertraute arktische Atmosphäre ein und zog ihn in den Durchgang. Keines von Sapphires verzweifelten Renovierungsprojekten hatte dagegen etwas ausrichten können. Als er die Küche betrat, knirschte etwas unter seinem Stiefel.
Glasscherben.
Sam wollte gerade das Licht anschalten, als er hörte, wie etwas mit einem dumpfen Aufprall zu Boden fiel, gefolgt von einem gezischten Fluch. Er konnte im Dunkeln besser sehen als jeder Mensch, also schaltete er das Licht nicht an und ging langsam und wachsam in den großen Saal. Der war eiskalt wie immer und voll kriechender Schatten. Er spürte die geisterhaften Disir , die ihn schnüffelnd begrüßten, weil sie seinen Geruch erkannten, und dann wieder mit der Dunkelheit verschmolzen. In einem weit entfernten Winkel zu seiner Linken,
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