Valley - Tal der Wächter
mir fernzuhalten. Jedes Frühjahr streue ich Blumen auf die Grabhügel meiner Eltern und stelle Opfergaben unter die Trauerweiden, um das Kleine Volk gnädig zu stimmen. Außerdem meide ich Apfelbäume um die Mittagszeit, wende den Blick von den Schatten der Hügelgräber ab und erleichtere mich niemals, wirklich niemals, am Ufer eines Baches oder unter einem Beerenbusch, damit ich das darin wohnende Geschöpf nicht kränke. An meinem Beispiel kann man sehen, dass gesunder Menschenverstand und Umsicht ihre Wirkung nicht verfehlen. Und wenn du ein langes Leben haben willst, rate ich dir, es genauso zu halten. Nein, keine Fragen mehr, mein lieber Hal! Ich puste jetzt die Kerze aus!«
Nicht dass Hal ein zurückhaltendes, anspruchsloses Kind gewesen wäre, im Gegenteil, er war von klein auf ausgesprochen selbstbewusst und eigensinnig. Aber er wusste auch, wann er still zu sein hatte. Tag für Tag und Jahr für Jahr lauschte er den Geschichten über Svens Haus. Und Nacht für Nacht woben sich die Fäden einer jeden Geschichte in sein Leben und seine Träume, so wie sich die Fäden auf dem Webstuhl seiner Mutter miteinander verwoben.
2
Dass Sven etwas Besonderes war, zeigte sich von Anfang an. Schon als Kind war er stärker als jeder erwachsene Mann und konnte einem Ochsen mit bloßen Händen das Genick brechen. Auch war er stolz und leidenschaftlich, und wenn sein Temperament die Oberhand gewann, war mit ihm nicht gut Kirschen essen. Einmal warf er einen vorlauten Knecht kurzerhand über einen Heuhaufen. Nach diesem Vorfall ging er immer dann, wenn ihn der Zorn übermannte, auf Troldjagd. Einmal kam er, da war er nicht älter als du, nach einer Rauferei mit einem Trold heim und hatte eine Klaue im Oberschenkel. Der Trold hatte ihn auf einem Feld so tief unter die Erde gezogen, dass Sven bis zu den Achseln voll Lehm waren, aber Sven hatte sich an einer Baumwurzel festgehalten und die ganze Nacht lang so ausgeharrt, bis die Sonne über dem Eckzahn aufging. Da schwanden dem Trold die Kräfte und Sven konnte sich losreißen. Die Klaue in seinem Bein entdeckte er erst, als er wieder zu Hause war. »Ich habe Glück gehabt«, sagte er. »Der Trold war jung und noch nicht so stark wie ein ausgewachsener.«
Nein, ich weiß nicht, wo die Troldklaue geblieben ist. Frag mir nicht immer Löcher in den Bauch.
Auch mit vierzehn war Hal noch klein, gedrungen und kräftig. Obwohl ihn nur noch zwei Jahre vom Mannesalter trennten, war er kaum halb so groß wie sein Bruder Leif. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, reichte er Gudny bis zur Schulter.
Dafür war er mit einer eisernen Gesundheit gesegnet. Weder die Schwarze Kränk noch das Schweinefieber, weder die Flecksucht noch ein Dutzend anderer Krankheiten, die das Obertal immer wieder heimsuchten, befielen ihn. Seine körperliche Widerstandskraft wurde begleitet von einem besonders wachen Verstand, der sich in allen seinen Gedanken und Handlungen ausdrückte und sich häufig an den alltäglichen Einschränkungen des Hauses rieb.
Die meisten Angehörigen der Sven-Familie waren wortkarg und geduldig, innerlich und äußerlich durch das raue Wetter in der bergigen Gegend abgehärtet. Der Wechsel der Jahreszeiten und die immer wiederkehrenden Arbeiten auf Hof und Feld hatten sie geprägt, sie kümmerten sich um das Vieh, um Aussaat und Ernte und gingen ihrem Handwerk nach, wie zuvor ihre Eltern. Ungeachtet ihrer Stellung ließen Arnkel und Astrid weder für sich noch für ihre Kinder Ausnahmen gelten und waren sich für keine Arbeit zu schade. Trotzdem entging es niemandem, dass Hal keinen großen Eifer an den Tag legte, ihrem Beispiel zu folgen.
»Hat heute schon irgendwer Hal gesehen?«, fragte Arnkel missgelaunt, wenn sich die verschwitzten, mit Strohhalmen übersäten Männer zum abendlichen Bier im Hof versammelten. »Auf meinem Feld hat er nicht mitgearbeitet.«
»Auf meinem auch nicht«, erwiderte Leif. »Ich dachte, er sollte heute den Frauen beim Heurechen helfen.«
Der Brotbäcker Bolli kam über die Steinplatten gewatschelt. »Ich kann euch verraten, wo er war! Er war hier auf dem Hof und hat mir Haferkuchen stibitzt!«
»Hast du ihn dabei ertappt?«
»Ich hab ihn so gut wie gesehen! Als ich grade am Ofen zugange war, gab es vor meiner Tür auf einmal ein schauerliches Gekreisch. Ich bin rausgerannt und da hatte jemand eine Katze mit dem Schwanz an den Riegel gebunden. Hat’ne ganze Weile gedauert, bis ich die Schnur abhatte. Und was musste ich sehen, als ich
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