Vampire Academy 04
schüttelte verärgert den Kopf und ging zu dem Leichnam hinüber. Sie zog eine Grimasse, blickte auf den Strigoi hinab, griff in ihre große Lederhandtasche und zog eine kleine Phiole daraus hervor. Mit einer geschickten Bewegung träufelte sie deren Inhalt über den Leichnam und trat dann schnell zurück. Wo die Tropfen den Toten getroffen hatten, begann sich gelber Rauch zu kräuseln. Der Nebel bewegte sich langsam nach außen und breitete sich horizontal statt vertikal aus, bis er den Strigoi vollkommen einhüllte. Dann zogen sich die Schwaden immer weiter zusammen, bis nur noch ein faustgroßer Ball übrig blieb. Binnen weniger Sekunden war der Rauch restlos abgezogen und ließ ein unauffälliges Häufchen Staub zurück.
„Gern geschehen“, sagte Sydney entschieden, wobei sie mich immer noch missbilligend ansah.
„Was zum Teufel war das?“, rief ich.
„Mein Job. Kannst du mich bitte das nächste Mal anrufen, wenn so etwas passiert?“ Sie wandte sich ab und wollte gehen.
„Warte! Ich kann dich nicht anrufen – ich habe keine Ahnung, wer du bist.“
Sie drehte sich zu mir um und strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. „Wirklich? Du meinst es ernst, nicht wahr? Ich dachte, wenn ihr euren Abschluss macht, würde man euch allen von uns erzählen.“
„Oh, tja. Komische Sache … Ich habe, äh, nämlich keinen Abschluss gemacht.“
Sydneys Augen weiteten sich. „Du hast eins von diesen … Dingern … überwältigt, aber nie deinen Abschluss gemacht?“
Ich zuckte die Achseln, und sie schwieg einige Sekunden lang.
Schließlich seufzte sie abermals und sagte: „Ich schätze, wir müssen reden.“
Und ob wir das mussten. Die Begegnung mit ihr war das Seltsamste, was mir seit meiner Ankunft in Russland passiert war. Ich wollte wissen, warum sie dachte, ich hätte mich mit ihr in Verbindung setzen sollen, und wie sie diesen Strigoi-Leichnam aufgelöst hatte. Und als wir wieder auf belebte Straßen zurückkehrten und zu einem Café ihrer Wahl gingen, kam mir ein neuer Gedanke: Wenn sie über die Welt der Moroi Bescheid wusste, bestand die Möglichkeit, dass sie vielleicht auch wusste, wo Dimitris Dorf zu finden war.
Dimitri. Da war er wieder, tauchte einfach in meinen Gedanken auf. Ich hatte zwar keine Ahnung, ob er sich wirklich irgendwo in der Nähe seiner Heimatstadt herumtrieb, aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich ansonsten keinerlei Anhaltspunkte. Wieder überkam mich dieses unheimliche Gefühl. Mein Verstand überblendete Dimitris Gesicht mit dem des Strigoi, den ich soeben getötet hatte: bleiche Haut, rot geränderte Augen …
Nein, ermahnte ich mich streng. Schieb diese Gedanken jetzt erst mal beiseite. Keine Panik. Bis ich vor dem Strigoi Dimitri stand, würde ich die größte Kraft aus der Erinnerung an den Dimitri, den ich liebte, ziehen, mit seinen dunkelbraunen Augen, seinen warmen Händen, seinen leidenschaftlichen Umarmungen …
„Bist du okay … äh, wie immer du heißt?“
Sydney sah mich seltsam an, und mir wurde bewusst, dass wir vor einem Restaurant stehen geblieben waren. Ich wusste nicht, welchen Ausdruck mein Gesicht zeigte, aber er musste wohl eigenartig genug gewesen sein, um selbst ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Bisher hatte ich nämlich den Eindruck gehabt, dass sie so wenig wie möglich mit mir sprechen wollte.
„Ja, ja, alles bestens“, antwortete ich schroff und setzte meine Wächtermiene auf. „Und ich bin Rose. Das ist das Lokal?“
So war es. Das Restaurant war hell und fröhlich, wenn auch meilenweit entfernt von der Opulenz der Nachtigall . Wir ließen uns in einer Sitznische aus schwarzem Leder – womit ich Kunstleder meine – nieder, und ich stellte zu meinem Entzücken fest, dass die Speisekarte auf Russisch und mit englischen Übersetzungen sowohl russische als auch amerikanische Gerichte anzubieten hatte. Als ich gebratenes Huhn entdeckte, fing ich fast an zu sabbern. Mein Hunger war riesig, weil ich im Klub nichts gegessen hatte, und der Gedanke an frittiertes Fleisch war nach Wochen voller Kohlgerichte und sogenannter McDonald’s-Burger einfach zu verführerisch.
Eine Kellnerin kam an unseren Tisch, und während ich nur auf die Speisekarte zeigte, bestellte Sydney in fließendem Russisch. Hm, diese Sydney steckte voller Überraschungen. Angesichts ihrer forschen Art erwartete ich, dass sie mich sofort verhören würde, aber nachdem die Kellnerin gegangen war, blieb Sydney still, spielte nur mit ihrer Serviette herum und vermied jeden
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