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Vampyrus

Vampyrus

Titel: Vampyrus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doreen Kühne
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Sarg.
    Jenseits dieser Spalte und über dieser Erde war die Freiheit. Er quetschte den Daumen in den Schlitz, versuchte, den Deckel hochzudrücken. Als etwas Erde nach innen rieselte, glaubte Karl, die Ritze ein bisschen vergrößert zu haben. Er schob noch andere Finger nach und spürte leicht feuchtes, körniges Erdreich. Während er noch verzweifelt überlegte, welchen Sinn es mache, wenn weiter Erde in seinen Sarg falle, er jedoch den Spalt nicht vergrößern könne, fühlte er, wie er sich verformte. Es begann bei den Fingern, die er durch den Schlitz gesteckt hatte; sie wurden länger, dünner, arbeiteten sich nach oben vor. Seine Hand rutschte wie von selbst durch den Spalt, der Arm folgte. Es war, als bestünde sein Körper nur aus einzelnen staubfeinen Partikeln. Alle diese Teilchen kannten nur ein gemeinsames Ziel: nach oben. Sie suchten den Weg des geringsten Widerstands, schlängelten sich um Hindernisse. Er ahnte, wie seine Hand die Oberfläche durchstieß, die zweite Hand folgte, dann der Kopf und der Rest seines Körpers. Er richtete sich auf, spürte, wie seine Gestalt sich wieder verdichtete, betastete fasziniert sein eigenes Fleisch.
    „Liebe Jungfrau Maria, alle Heiligen, was geschieht mit mir? Helft mir!“ Doch sein Ruf verhallte ungehört auf dem nächtlichen Friedhof. Er füllte seine Lungen mit frischer Luft und wandte sein Gesicht dem tief stehenden Vollmond zu. Dann tauchte er mit erhobenen Armen in sein Licht und tankte neue Kraft.
    Es war ein langer Weg vom Kerepesi Friedhof in Pest nach Buda, wo er zu Hause war. Doch die Straßen und Gassen waren menschenleer, sodass er zu laufen begann, weil sein Hunger immer überwältigender wurde. Er erinnerte sich, er war vor kurzer Zeit schon einmal so gerannt, damals allerdings nicht vor Hunger, sondern in Todesangst. Verzweifelt versuchte er, sich zu entsinnen, was geschehen war, warum er solche Angst gehabt hatte. Da war viel Palinka gewesen, sie hatten getrunken und gesungen. Als er gehen wollte, zauberte János eine weitere Flasche Palinka aus seinem Gewand und Attila überredete ihn, einen letzten Schluck zu nehmen, und noch einen, und noch einen.
    Auf seinem Nachhauseweg von der Arbeit waren die beiden wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatten ihn nach dem Weg zum Platz Clark Adam befragt. Sie waren ins Gespräch gekommen und schließlich standen sie alle mitten auf der Kettenbrücke, und er erklärte ihnen die Gebäude, die die Donauufer säumten.
    In seiner Erinnerung zog Nebel über der Donau auf. Zuerst nur einige durchsichtige Schwaden, wabernd über den leisen Wellen des Flusses. Dann jedoch verdichteten sie sich, stiegen höher, ließen die Laternen am Donauufer trüber werden und verschlangen sie schließlich. Als der Nebel sie dann erreichte, war er so dick, dass Karl glaubte, ihn mit seiner Hand teilen zu können. Seine Finger berührten die Nebelwand und zuckten sofort zurück, so kalt war sie. Seine ganze Hand fühlte sich wie gelähmt an. Er umfasste die eiskalten Finger mit der anderen Hand und sah sich nach Attila und János um.
    „Was zur Hölle …“, der Satz blieb unausgesprochen auf seine Zunge liegen, als Attilas wutverzerrte Gesichtszüge im Nebel vor ihm auftauchten. Seine Augen glühten wie feurige Kohlen, und sein Mund entblößte lange, bleiche Eckzähne umrahmt von blutroten Lippen. „Dracul, Dracul, der Teufel, der Teufel“, schrie Karl und wollte wegrennen. Er prallte jedoch gegen János, der ihn festhielt, und ineinander verkeilt stürzten beide zu Boden. Eine Zeit lang rangelten sie planlos. Karls Herz hämmerte wie ein Dampfkessel kurz vor der Explosion, und er betete immer wieder einen Satz: „Heilige Mutter Gottes, beschütze mich vor dem Teufel.“ Plötzlich wurde er hochgerissen, hing an Attilas ausgestrecktem Arm, während seine Füße verzweifelt nach Boden suchten. Dann umklammerte János ihn von hinten, lange weiße Reißzähne blitzten auf und alles wurde rot. Rot vor Blut. Sein Blut? War er verblutet?
    Karl beeilte sich, die Kettenbrücke so schnell wie möglich zu überqueren. Weit und breit war kein Nebel zu sehen, die Donau lag ruhig unter einem Sternenhimmel. Trotzdem konnte er nicht vermeiden, dass sein Herz heftiger pochte und sich neben dem Hunger ein mulmiges Gefühl im Bauch breitmachte. Mehrmals sah er hinter sich, in der angstvollen Erwartung, Attila und János zu erblicken. Aber die Brücke war leer. Trotzdem war er froh, als er auf der Budaer Seite nach links an der Donau entlang

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