Van Helsing
Boden, wo er noch ein paar Momente zuckte, als wollte er sein Schicksal nicht akzeptieren.
Hyde heulte vor Schmerz laut auf und ließ die Glocke krachend fallen, sodass der Holzboden splitterte. Van Helsing nutzte den Moment, um aus seinem vorübergehenden Gefängnis zu rollen.
»Ich wette, das war unangenehm«, meinte er.
Bald würde alles vorbei sein. Er machte Anstalten hinunterzuspringen, um den Kampf zu beenden, als etwas seine Aufmerksamkeit erregte: Der abgetrennte Arm hörte auf zu zucken, als wären alles Leben und alle Bosheit aus ihm gewichen. Vor Van Helsings erstauntem Blick verwandelte sich die mächtige Gliedmaße eines bösen Monsters in den dünnen, knochigen Arm eines harmlosen alten Mannes.
Der Anblick ließ ihn erstarren. Vielleicht war der Doktor irgendwo dort drinnen, zu überwältigt von Hydes böser Macht, um sich befreien zu können.
Die Kreatur nutzte den Moment der Ablenkung, stürzte sich auf Van Helsing, packte ihn mit ihrem verbliebenen Arm und schleuderte ihn in die Höhe. Van Helsing spürte, wie er zur Decke flog und diese durchbrach.
Die kühle Nachtluft malträtierte seine Sinne, dann prallte er auf das Dach. Eine Wolke aus Bewusstlosigkeit umfing ihn und drohte ihn zu überwältigen.
Kopfschüttelnd versuchte er aufzustehen. Das war auch höchste Zeit. Hyde war in der Nähe, das spürte er ...
Zu spät. Schon wurde Van Helsing am Kragen hochgerissen. Er schüttelte erneut den Kopf, atmete tief ein und spürte, wie ihn die Kälte mit neuem Leben erfüllte.
»Ich denke, die Aussicht von hier oben wird Sie beeindrucken«, hörte er die Kreatur lachen.
Sie waren am Rand des Turmes, und Hyde hob ihn hoch, sodass sie sich Auge in Auge gegenüberstanden. Van Helsing konnte im Atem des Monsters den Brodem seiner letzten Mahlzeit riechen; er stank nach verwesendem Fleisch. Van Helsing entschied, besser nicht zu spekulieren, was Hyde gegessen hatte.
»Es war mir ein Vergnügen, Sie gekannt zu haben«, meinte Hyde, und schon wurde Van Helsing ins Leere geschleudert und stürzte dem Boden entgegen. Instinktiv zog er die Enterhakenpistole aus dem Holster an seiner Seite und feuerte. Der Haken schoss aus dem Lauf und zog sein Seil hinter sich her. Van Helsing spürte, wie ihm die Erde entgegenraste. Es würde knapp werden – sehr knapp.
Der Enterhaken durchschlug Hydes Bauch. Die Kreatur kippte hintenüber, aus Van Helsings Blickfeld, und das Seil straffte sich. Van Helsing hielt die Pistole mit beiden Händen fest und spürte, wie er ruckartig zum Halt kam. Als er nach unten blickte – zum ersten Mal –, stellte er fest, dass er nur einen halben Meter über dem Kopfsteinpflaster hing.
Plötzlich wurde das Seil schlaff, und Van Helsing fiel zu Boden. Er blickte auf und sah, dass die Kreatur auf einem Sims balancierte und sich nur mit knapper Not vor einem Sturz bewahrte. Das Enterseil hatte sie glatt durchschlagen, und leicht würde sich der stählerne Widerhaken ganz bestimmt nicht entfernen lassen.
Van Helsing kam auf die Beine, packte das Seil und zog so heftig daran, wie er konnte. Hyde kippte nach vorn, fuchtelte hilflos mit dem ihm verbliebenen Arm, warf sich dann mit aller Kraft nach hinten und verschwand außer Sicht.
Van Helsing hielt die Enterhakenpistole weiter fest und wurde hochgerissen. Ein fernes Krachen ertönte: Hyde war durch das Dach der Kirche gebrochen. Bevor Van Helsing die Pistole loslassen konnte, flog er hinauf zur Spitze des Turmes, während Hyde stürzte. Auf dem Weg nach oben beobachtete er, wie das Monster durch das große Buntglasfenster von Notre-Dame brach, das nach außen explodierte. Ein tödlicher Hagelschauer aus schillernden Scherben regnete auf den Hof nieder.
Wie durch ein Wunder landete Van Helsing einen Moment später auf dem Dach des Turmes. Er spähte über den Rand und sah die letzten Sekunden von Hydes Sturz. Die Kreatur schien sich zu verformen und zu schrumpfen, als sie auf dem Kopfsteinpflaster aufschlug.
Mr Hyde war tot. Und er war als Mensch gestorben, nicht als Monster.
Van Helsing hatte im Lauf der Konfrontation mehr als einmal großes Glück gehabt, doch er spürte weder Triumph noch Freude. Stattdessen erfüllte ihn eine tiefe Traurigkeit.
Die Tatsache, dass das Monster tot war, spendete ihm keinen Trost. Der Mann, Dr. Jekyll, war die ganze Zeit in ihm gewesen. Hatte der Doktor gegen die Dunkelheit von Mr Hyde gekämpft? Soweit Van Helsing wusste, hatte der Doktor die Formel, die ihn verwandelt hatte, im Zuge seiner
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