Van Helsing
hat ein grausiges Geheimnis... Er hat... er hat...«
Er atmete ein letztes Mal aus, dann lag er reglos da. Anna sah kurz auf ihn hinunter und wandte sich ab, um erneut über die Klippe zu blicken. Als die Tränen kamen, konnte sie sie nicht zurückhalten.
4
Paris, Frankreich
Während Van Helsing durch die Straßen ging, achtete er darauf, dass die Maske nicht verrutschte, die die untere Hälfte seines Gesichts bedeckte. Er konnte es sich jetzt nicht leisten, Aufmerksamkeit zu erregen. Das war auch nicht schwer in dieser verregneten Nacht, in der nur wenige Menschen unterwegs waren – weniger als gewöhnlich, zweifellos wegen der momentanen ... Schwierigkeiten. Was seine Maske frei ließ, das verhüllte sein breitkrempiger Hut. Man musste ihm schon sehr nahe kommen, um seine Augen zu sehen – und das würde er bestimmt nicht zulassen. Sein langer, wallender dunkler Mantel verbarg die Umrisse seiner Gestalt und vervollständigte die Verkleidung. Der Mantel hatte den zusätzlichen Vorteil, genug Platz für seine Feldausrüstung zu bieten.
Paris fühlte sich irgendwie vertraut an, als hätte er hier schon erhebliche Zeit verbracht, aber natürlich hatte er die Stadt auf seinen kurzen Reisen im Lauf der letzten Jahre nie besucht. Er stellte diese Art Deja-vu nicht länger in Frage. Er war sich ziemlich sicher, kein Franzose zu sein. Selbst wenn in dieser Stadt Antworten auf ihn warteten, glaubte er nicht, sie heute Nacht zu finden.
Sein Blick fiel auf einen hohen, halb fertig gestellten Eisenturm im Hintergrund. Das ist neu, sagte eine Stimme in ihm. Er kannte diese Stimme gut: Sie gehörte zu jenem anderen Leben, an das er sich nicht erinnern konnte, ein Leben, das ihn mit Erinnerungsfetzen an eine unbekannte Vergangenheit quälte.
Tanzende Schatten umspielten ein eselsohriges Plakat an einer Wand, die von einer Gaslichtlaterne erhellt wurde. Das Licht schien den großen schwarzen Buchstaben Leben einzuhauchen, die AVIS DE RECHERCHE verkündeten: Gesucht! Nicht weniger als 2 000 Francs winkten dem Finder. Diese Plakate hingen überall in der Stadt, und Van Helsing musste zugeben, dass die Zeichnung darauf ihm sehr ähnlich sah. Das war seiner Meinung nach typisch für die Franzosen: Sie verstanden zwar die Details, aber das große Ganze entging ihnen. Hielten sie wirklich ihn für den Feind? Wenn sie von den wahren Gefahren wüssten, die dort draußen lauerten, würden sie wohl ihre Baguettes fallen lassen und auf der Stelle in die Berge fliehen.
In diesem Moment gellte ein schriller Schrei, der das Blut gefrieren ließ, durch die Nacht. Er gab es nur ungern zu, aber der Kardinal hatte Recht: Er wurde hier gebraucht.
Kurz entschlossen riss er das Plakat von der Wand und knüllte es zusammen. Nun, zumindest wussten die Franzosen die Mühen zu schätzen, die er für sie auf sich genommen hatte. Mit neuer Entschlossenheit lief er weiter, in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war.
Er brauchte nicht lange, bis er sie fand. Sie lag auf dem großen steinernen Platz vor der Kathedrale von Notre-Dame. Und sie war tot, daran bestand kein Zweifel. Eilig untersuchte er ihren zerschmetterten Körper, um sich zu vergewissern, dass dies das Werk ... jener Kreatur war, der sein Auftrag galt. Neben ihr auf dem Boden glühte etwas Kleines vor sich hin.
Er bückte sich und hob einen glosenden, mit Speichel bedeckten Zigarrenstummel auf. Dann hörte er es, ein Geräusch nicht von dieser Welt. Seine Zielperson war ganz in der Nähe! Hastig suchte er die Kathedrale mit den Augen ab. Das Mondlicht war hell genug, um die einzelnen Türme und Giebel des Bauwerks zu erkennen.
Noch nie zuvor war er der Kathedrale so nahe gewesen; zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. Note-Dame war wunderschön, eine gewaltige Leistung der Baukunst. Sie besaß zwei große Glockentürme, die sich zu beiden Seiten emporreckten und ein einzelnes riesiges Buntglasfenster in der Mitte des Gebäudes flankierten. Größtenteils im zwölften Jahrhundert errichtet, war sie eines der prachtvollsten Bauwerke der Menschheit. Und davor, tot, lag jetzt das Werk eines Monsters.
Dort. Eine schattenhafte Gestalt kletterte an der Seitenwand des gigantischen Bauwerks hinauf und verschwand dann über eine Brüstung. Van Helsing steuerte auf den Haupteingang der Kathedrale zu.
Sobald er im Innern war, stieg er die Treppe hinauf. Seinem Gehör folgend, begab er sich in den nördlichen Glockenturm und betrat die Glockenstube: einen dunklen und
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