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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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hätte sie sich selten so offen und friedvoll gefühlt.
    Sabrina sprach immer noch nicht viel, aber eine Zigarette nahm sie dann doch an. Es gab so viele Fragen! Von wem waren diese zwei Kinder? Sie wagte nicht, dieses Thema noch einmal anzuschneiden. Lebten diese Menschen immer so, wie sie es hier sah? Kamen sie nie in eine Stadt, um Vergleiche zwischen den unterschiedlichen Lebensweisen anzustellen? Woher stammte die Autorität von Frank? War er trotz seiner vielfältigen Ticks innerhalb der Gemeinde eine hochstehende Persönlichkeit? Und woher kamen diese Ticks? Leider schienen ihr diese Fragen geeignet zu sein, sowohl als Interesse als auch als Angriff gewertet zu werden. Und sie wollte diese Zeit nicht mit einer scharf antwortenden oder auch nur schmollenden Sabrina verbringen. Also fragte sie einfach nur: „Schön hier, oder?“ Sabrina stieß eine Rauchwolke aus, sah Martha kurz an und sagte, während ihr Blick wieder durch den Raum schwebte: „Schöner, als du denkst. Aber das wirst du ja noch sehen.“
    Martha war sofort wieder verwirrt. Was sollte dieser Hinweis auf die Zukunft? Sie hatte doch schon gesehen, wie hier gelebt wurde, fand es befremdlich, aber auch ein wenig schön. Und Frank hatte so interessante Fragen angesprochen. Aber morgen gegen Mittag würden sie schon wieder auf dem Heimweg sein und ihre Gedanken auf die kommende Woche und die möglichen Entwicklungen in Beruf wie Privatleben richten. Sollte das wieder eine Zurechtweisung sein? „Weißt du“, sie senkte aus Scham und aus Angst, wieder gemaßregelt zu werden, ihre Stimme, „es war sehr schön heute nachmittag. Ich habe das wirklich noch niemals gemacht.“ Sie schluckte. „Ich bin dir sehr dankbar.“ Sabrina schnaubte durch die Nase, und ein Rauchzwilling wallte über den Tisch. Dann lachte sie: „Lass nur! Das ist doch nur ein Anfang gewesen. Genieße jede Sekunde und denk nicht darüber nach. Nimm, was du kriegen kannst, und schäme und ängstige dich nicht. Das Schlechte ist für den Teufel, das Gute für dich und Gott!“ Und sie lachte noch einmal kurz auf, bevor sie ihr Bierglas austrank und ein weiteres bestellte.
    Martha bestellte ebenfalls und zündete sich noch eine Zigarette an. Schweigend saßen sie eine Weile da, bis Sabrina die Initiative ergriff. „Ich glaube an diese Welt hier“, sagte sie ruhig. „Auch, wenn einiges seltsam und ungereimt erscheint. Das, was wir bei uns in der Stadt erleben und unternehmen, ist eine vollständig unnütze, ja schädliche Weiterung unseres eigentlichen Lebens. Was brauchen wir denn: Wir müssen essen, trinken, uns entleeren. Wir müssen schlafen. Und wir können nicht auf Dauer allein sein, ohne verrückt zu werden. Darum wohnen wir in Städten, arbeiten und führen ein sogenanntes Privatleben. Aber was für eine armselige Art des Lebens ist das! Verstehst du: Wir sind so rasend aktiv – und wozu? Um zu essen, zu trinken, uns zu entleeren und zu schlafen. Das ist schon ziemlich absurd. Wozu brauchst du ein eigenes Haus, einen eigenen Wagen, ein ständig sich vermehrendes Mobiliar, eine Schmuckkassette, an deren Inhalt du dich eigentlich gar nicht mehr erinnern kannst?“
    Sie trank einen Schluck Bier, griff geistesabwesend nach Marthas Zigarettenschachtel und sprach, Rauch ausstoßend, weiter: „All dieses Streben nach Gütern oder auch Menschen entspringt einer grotesken Strategie des Vermeidens. Wir vermeiden aus Angst, uns wirklich menschgemäß zu verhalten. Aus Angst vor dem Verlassensein, vor dem Altern, vor dem Verlassenwerden, vor dem Tod. Dabei wäre es so viel einfacher, wir würden uns auf das Notwendige konzentrieren, unseren Weg annehmen und aus dem Notwendigen das Schöne schöpfen.“
    Martha kam sich vor wie ein Kind. Sie sehnte sich bereits nach ihrer kleinen Wohnung mit den liebgewordenen Gegenständen, nach dem Ausgehen am Abend, nach der kleinen, unkomplizierten Zufriedenheit in Gesellschaft von Freunden. Sie liebte ihren kleinen Stoffbären, der immer auf dem Kopfkissen hockte und abends auf sie wartete, bis sie ins Bett ging. Und sie sehnte sich nach jemandem, dem sie vertraute und der über ein reiches Arsenal an Liebkosungen und Tröstungen verfügte. Sollte sie nur an Essen, Trinken, Toilette und Schlafen denken? Das schien eine eher armselige und entschieden langweilige Variante des Lebens zu sein.
    „Was ist mit Gefühlen? Kommen die in deinem Leben nicht vor?“ Sabrina lachte wieder kurz auf. Martha fiel auf, wie freudlos dieses Lachen war und wie

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